1988 VX (SM)
muß dann eben noch mal ran. Die nächste Mine kommt in eine Aktentasche, und die deponieren wir in einem Schließfach auf dem Hamburger Hauptbahnhof oder auf dem Kölner, eingestellt auf eine Zeit, in der die meisten Züge ankommen.«
»Ja, und die ganze Arbeit ginge von vorn los«, antwortete Robert. »Ich will endlich diesen Auftrag erledigt haben, will nach Madeira, will Ferien machen. Schlimm genug, daß ich ohne Helga fahren muß. Wenn es nicht so kaltschnäuzig klänge, würde ich sagen, das mit Helga ist die vierte Panne.«
»Nein!« Zaymas Einwurf kam sehr energisch, und in demselben, fast zurechtweisenden Ton ergänzte sie: »Das mit Helga und Igor gehört zur Panne Nummer eins! Wenn die beiden aufgepaßt hätten, wäre Golombek nicht entkommen.«
Diesem harten Vorwurf mochte Pierre den möglichen Beginn eines Streites abgelauscht haben, und da sie einen solchen nun wirklich nicht brauchen konnten, tippte er schnell auf die Landkarte und sagte: »Wer weiß, vielleicht
ist Lübeck die Endstation! Stellt euch vor, sie fahren bis ins Zentrum, und das leise Hiroshima, von dem Patrick sprach, geht vom Lübecker Marktplatz aus! Dann trifft es eben nicht ein paar tausend Soldaten, sondern ein paar tausend Zivilisten! Das gibt ein riesiges Chaos. Zumindest das Kerngebiet muß total abgeriegelt werden. Patrick hat es mir auf einem Stadtplan vorgeführt. Da ging es zwar um Köln, aber es war ja nur ein Beispiel, das auf jede andere Stadt übertragen werden kann. Das Gas, hat er gesagt, kriecht durch die Straßen, und wer es nur eine Minute lang einatmet, der ist dran. Und dann hat er über die streng geheimgehaltenen Katastrophenschutzpläne geredet. Ein verseuchtes Gebiet, sagt er, wird in mehrere Zonen eingeteilt. Die innere wird hermetisch abgeriegelt. Da darf kein Schwein mehr rein oder raus, und wer da drinnen nicht sofort tot ist, weil er sich vielleicht verkrochen hat, den erwischt es trotzdem. Das Zeug dringt nämlich durch alle Ritzen. Ja, und er hat auch beschrieben, was bei einem Verkehrsunfall passieren kann. Wenn ein LKW, der Giftgas geladen hat, umkippt oder gegen ein Haus knallt und nur ein einziger Behälter dabei aufplatzt, gibt es, sofern die Gegend dichtbesiedelt ist, mindestens dreihunderttausend Tote! Wir haben zwar kein ganzes Faß, sondern nur zwei Tellerminen versteckt, aber Lübeck hat ja auch keine dreihunderttausend Einwohner. Ich sage euch, die Wirkung wird verheerend, wenn’s jetzt wirklich nach Lübeck geht.«
»Wenn! Wenn! Wenn!« Robert schlug mehrmals auf das Lenkrad.
Sie kamen durch Wälder, die in vollem Grün standen. Die Baumkronen schwankten im Wind. Der Konvoi erreichte Gneversdorf, fuhr weiter, und nach wenigen Kilometern gab es für die drei Beobachter die nächste große Überraschung. Dort, wo sich der grüne Wurm, sofern er nach Lübeck wollte, rechts hätte halten müssen, bog er nach links ab, und da endlich hatte der literaturkundige Robert eine Erklärung. »Leute«, rief er, »daß ich nicht vorher darauf gekommen bin! Natürlich, das ist es! Habt ihr Heinrich Bölls ENDE EINER DIENSTFAHRT gelesen?«
Sie hatten nicht.
»Also, da geht es, wie der Titel schon sagt, um eine Dienstfahrt, eine mit einem Bundeswehrauto, und sie wird durchgeführt zu einem idiotischen Zweck. Es sollen Kilometer abgefahren werden, damit ein bestimmter Benzinverbrauch erzielt wird, und der muß erzielt werden, weil die nächste Zuteilung sonst niedriger ausfällt als die vorausgegangene. Diese Zuteilung wird nämlich nach dem erwiesenen Verbrauch bemessen. Nur darum gurken die mit ihrem Auto stundenlang durch die Gegend. Und genau das, nehme ich an, wird uns hier vorgeführt! Um halb zehn sollen sie in Putlos sein. Jetzt ist es erst halb acht. Sie haben also noch jede Menge Zeit, und die nutzen sie, um ihren Spritkonsum auf den notwendigen Stand zu bringen.«
Wenn es auch eine Erklärung war, die nicht stimmte, so erschien sie den dreien doch als plausibel, und sie gaben sogar bissige Kommentare zu dem vermeintlichen Mißbrauch von Steuergeldern ab.
Die letzte, die definitive Korrektur ihrer Irrtümer erfolgte, als der Konvoi Travemünde erreichte. In den Straßen bemerkten sie noch nichts, aber als die rund dreißig Militärfahrzeuge dann zum Hafen fuhren, sich am Kai aufreihten, und zwar direkt vor einer Verladerampe, an der ein großes Fährschiff mit geöffneter Bugklappe lag, da war ihnen endgültig klar: Das Ziel hieß nicht Putlos und
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