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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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war, hatte zwar eine Reihe wertloser Bilder geschossen, nämlich von der Landschaft außerhalb des Camps, aber eben auch acht Aufnahmen, die ihnen seine genaue Beschaffenheit deutlich machten. Sie sahen den sieben Meter hohen Tower mit der Kuppel, daneben das zweistöckige Gebäude, sahen jedes Fenster, jede Tür, auch den kleinen Anbau und die vier Soldaten davor; auf drei anderen Fotos waren die Bunkereingänge zu erkennen. Sie sahen Unterkünfte und Versorgungsgebäude, Löschteiche, bereitstehende Feuerwehren und andere Fahrzeuge: Jeeps, Ambulanzen, Spähwagen, Laster. Außerdem drei Panzer. Hilarios südamerikanisches Temperament kam zum Durchbruch, als er voller Begeisterung die Fäuste gegeneinanderschlug und ausrief: » Caramba! Der weiße Storch bringt die Babys, und der schwarze, Leute, der bringt uns ins Depot!«

6.
    Auf dem Flug Frankfurt – Madrid hatte die Boeing 737 ihre Reiseflughöhe von neuntausend Metern erreicht und lag ruhig in der Luft. Frank Golombek hatte einen Platz am Gang. Neben ihm saß ein Mann mittleren Alters, der die NEW YORK TIMES las. Den Fensterplatz seiner Reihe hatte ein etwa zehnjähriges Mädchen, das unentwegt nach draußen sah.
    Er lehnte sich in seinen Sitz zurück und dachte: Gewiß, das wird eine lange, aufwendige Reise bis nach Chile, aber schließlich ist es fast eine Mission! Er erinnerte sich anderer Gelegenheiten, bei denen es darum gegangen war, Kummer von Marianne fernzuhalten, oder auch, ihr eine Freude zu machen. Manchmal war es Katharina gewesen, die heimlich Einfluß nahm; meistens er selbst. Eltern von Behinderten, so sagten sich beide, sind nun mal dazu gezwungen, in die natürliche Verteilung von Freude und Leid einzugreifen, damit nicht, als Folge der Benachteiligung, erneute Benachteiligung entsteht. Absprachen mit Lehrern, Nachbarn, Freunden gehörten dazu, und jedesmal war es natürlich oberstes Gebot, daß Marianne davon nichts erfuhr. Einmal, da war sie neun oder zehn Jahre alt gewesen, war es um die Preisverteilung bei einem Malwettbewerb gegangen. Der noch sehr junge Lehrer hatte zu Katharina gesagt, Marianne solle einen Sonderpreis bekommen. Nein, hatte Katharina geantwortet, auf keinen Fall einen Sonderpreis! Ein solches Spiel würde ihre Tochter durchschauen. Dieses Gespräch hatte lange vor Beginn des Wettbewerbs stattgefunden, und als es dann soweit war, gab es eine Überraschung. Von den einunddreißig eingereichten Arbeiten, die der Jury – nicht mit Namen, sondern mit Nummern versehen – vorgelegt wurden, erhielt Mariannes Bild den zweiten Preis. Die Kinder hatten ein Tier zeichnen sollen, und da war für Marianne kein anderes als ihr Pony Mustafa in Frage gekommen.
    Wie wird Alejandro reagieren? fragte er sich zum wiederholten Male. Doch da der junge Chilene ihm unbekannt war und er nichts zur Hand hatte, worauf eine Hoffnung oder gar eine Vermutung sich hätte stützen können, gingen alle Erwägungen ins Leere. So geschah es, daß seine Gedanken bald um etwas anderes kreisten, nämlich um das unglückliche Geschehen, mit dem alles seinen Anfang genommen hatte.
    Gut ein Vierteljahrhundert war es nun her. Da wurde in Deutschland ein neues Schlafmittel entwickelt und auf den Markt gebracht. Daß es ein Gift war, wußte man nicht. Im Gegenteil, man glaubte ein Wundermittel gefunden zu haben, das verläßlich wirkte und dem menschlichen Organismus keinerlei Schaden zufügte. Und vertrieb es dann auch weltweit. Mit großem Erfolg.
    Contergan hieß das neue Mittel. Es wurde in Stolberg bei Aachen hergestellt. Über dreihundert Millionen Tagesdosen wurden in den Jahren 1957 bis 1961 in den Handel gebracht, und der in diesem Zeitraum erzielte Umsatz betrug, nur auf dieses Medikament bezogen, fünfundzwanzig Millionen Mark. Und es wurde weitergeworben. Immer wieder wiesen die Texte darauf hin, daß Contergan atoxisch und absolut ungefährlich sei. Was Wunder also, daß gerade die Schwangeren danach griffen, um entspannt und gefaßt auf ihre Stunde zuleben zu können. Und was Wunder auch, daß, sofern sie von diesem Mittel noch nicht wußten, die Ärzte es ihnen nannten. Doch es mußten gar nicht die Ärzte sein; Freunde, Bekannte, die Frau auf dem Nebenplatz im Bus oder im Kino oder im Frisiersalon, das genügte, denn die verheißungsvollen Tabletten waren so problemlos zu beschaffen wie Eukalyptusbonbons und Mottenkugeln, nämlich ohne ärztliche Verschreibung.
    Auch Katharina, ohnehin mit schlechtem Schlaf ausgestattet, nahm das Contergan, als

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