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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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sie ihr Baby erwartete, und schlief so gut und tief, wie sie es vorher nur als Kind getan hatte.
    Doch Mitte November des Jahres 1961, vier Jahre nach der Einführung des neuen Medikaments und wenige Wochen vor Mariannes Geburt, meldete sich ein Mann aus Hamburg telefonisch bei der Herstellerfirma. Es war der Arzt und Humangenetiker Widukind Lenz, und er teilte den Herren mit, das in ihrem Präparat enthaltene Thalidomid habe möglicherweise die in jüngster Zeit verstärkt aufgetretenen Fälle von Mißgeburten verursacht. Phokomelie hieß die auffälligste der beobachteten Deformationen, und sie konnte bedeuten, daß dem Neugeborenen die Arme fehlten oder die Beine oder beides und daß statt der fehlenden Gliedmaßen die Hände und Füße wie Seehundsflossen direkt aus dem Rumpf herauswuchsen. Es gab Varianten: daß zum Beispiel halbe Arme und halbe Beine da waren, Unterarme also, die aus der Schulter kamen, und Unterschenkel, die am Rumpf ansetzten. Aber es gab auch Kinder, denen nicht nur Arme und Beine fehlten, sondern auch Hände und Füße, so daß nur einzelne Finger oder Zehen am Torso saßen. Und noch einiges mehr nannte der Katalog der furchtbaren Möglichkeiten: fehlende Ohren, schiefe Augäpfel, Zwerchfelle am falschen Platz und Geistesgestörtheit, und nicht selten sprach man von einer Gnade, wenn ein solches Geschöpf tot zur Welt kam oder kurz nach der Geburt starb. Ein paar tausend solcher Kinder gab es, und so war Frank Golombek nur einer von vielen verzweifelten Vätern, als er sich vor sechsundzwanzig Jahren von der alten Bauernwiege abwandte und Mühe hatte, auf den Beinen zu bleiben.
    Doch schon lange vor dem Alarmsignal aus Hamburg hatte ein anderer zumindest Nervenschäden als Folge der Einnahme von Contergan für möglich gehalten, nämlich der Düsseldorfer Neurologe Dr. Ralf Voss, und danach gab es rund zweitausend weitere warnende Hinweise.
    Am 25. November 1961 zog die Herstellerfirma das Contergan aus dem Handel, und knapp einen Monat später leitete die Aachener Staatsanwaltschaft das Ermittlungsverfahren gegen das Werk ein. Damit begann ein juristisches Tauziehen, wie es die deutsche Öffentlichkeit bis dahin nicht gekannt hatte. Erst nach sechsjähriger Ermittlungsarbeit wurde die Anklage erhoben, und nach weiteren drei Jahren wurde das Verfahren eingestellt mit dem Ergebnis, daß persönliche Schuld nur in geringem Umfang vermutet werden konnte. Gleichwohl stellte die beklagte Firma den viertausend geschädigten Kindern einen Betrag von einhundertfünfzehn Millionen Mark zu Verfügung.
    Golombek hatte noch andere Zahlen im Kopf, die das gigantische Ausmaß dieses Prozesses beleuchteten: Vierhunderttausend Meter Tonband wurden aufgenommen. Die Anklageschrift war fast tausend Seiten stark, und die Prozeßakten füllten zweihundertfünfundsechzig LEITZOrdner. Die Kosten des Verfahrens beliefen sich auf sechs Millionen Mark, und zweihundert Journalisten aus aller Welt waren angereist, um der Schlacht der drei Staatsanwälte, der achtzehn Verteidiger, der sechzig Gutachter und der vierhundert Nebenkläger beizuwohnen.
Golombek erinnerte sich: Zwar waren neun Männer angeklagt, führende Chemiker und Kaufleute der Herstellerfirma, aber es gelang nicht, den jeweiligen Schuldanteil so einzugrenzen, daß er auf die Einzelperson angewandt werden konnte. Eine unentwirrbare Verflechtung von Kompetenz und Verantwortung unter den Angeklagten sorgte dafür, daß stets nur die Gruppe als Ganzes gemeint sein konnte. Ihr wurde denn auch bescheinigt, daß der Zusammenhang zwischen dem Contergan und den aufgetretenen schweren physischen Schäden als gesichert anzusehen sei. Auf der anderen Seite verneinte das Gericht die Vorhersehbarkeit der Schäden.
    Es war einer der längsten und aufwendigsten Prozesse der deutschen Rechtsgeschichte, und trotzdem stand am Ende der neunjährigen Strapaze nur ein großes Fragezeichen. Der Fall hatte sich als nicht justitiabel erwiesen.
    Und dann war da noch die Frage der endgültigen Entschädigung. Man rechnete es den Herstellern hoch an, daß sie frühzeitig einhundertfünfzehn Millionen Mark bereitgestellt hatten, machte aber der Regierung, unter deren Verantwortung ein so gefährliches Arzneimittel auf den Markt gelangen konnte, den Vorwurf, nicht mit der nötigen Entschlossenheit für die Opfer eingetreten zu sein. Golombek entsann sich eines sarkastischen Vergleichs, den der Berichterstatter des SPIEGEL damals zog. »Ein Zeltdach müßte man sein und kein

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