1988 VX (SM)
es war doch, ihrer Meinung nach, so einfach zu begreifen! Cara war ja ein Partner, der ihre Hilfsbedürftigkeit kannte. Sie glaubte fest daran, daß das Tier alles wußte. So unbeherrscht und aggressiv es sich anderen gegenüber verhielt, so geduldig und sanft war es, wenn es sie trug.
Sie nahm den Waldweg, den sie oft benutzte, und erreichte nach einer halben Stunde das Blockhaus, das zum Jagdrevier ihres Vaters gehörte. Hier gab es keine Rampe, wohl aber eine große hölzerne Kiste mit Streugut, und auf die steuerte Cara denn auch sofort zu.
Marianne stieg ab, pflockte das Tier mit langer Leine an und ging ins Haus. Es war nur dürftig ausgestattet. Nachdem dort zweimal eingebrochen worden war, hatten die Eltern das Inventar auf eine Pritsche, einen rohen Tisch, zwei Bänke und ein paar Küchengeräte beschränkt.
Sie nahm Zigaretten und Feuerzeug aus ihrem Brustbeutel, legte sich auf die Pritsche und rauchte, dachte nach über Alejandros bevorstehende Ankunft und glitt dann unwillkürlich in eine Rückschau. Im Grunde, überlegte sie, gibt es sie gar nicht, die Geschichte meines Leidens, denn es war von Anfang an da und war immer gleich. Also ist es die Geschichte meiner Einstellung dazu, und die hat sich natürlich im Laufe der Zeit entwickelt, verändert, so wie ich mich entwickelt und verändert habe.
Ein ganz frühes Erlebnis fiel ihr ein. Sie war vier Jahre alt und wurde zum erstenmal geschlagen. Im Kindergarten. Von einem Jungen. Er schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht, weil sie, wie er meinte, die Schuld daran hatte, daß sein Apfel auf den Fußboden gefallen war. Im ersten Augenblick war sie verwirrt, denn sie begriff, daß sie nicht zurückschlagen konnte. Dann aber kam die Gegenwehr, und sie erfolgte, wie sie erfolgen mußte, nämlich mit den Füßen. Die Kindergärtnerin schritt ein und machte eine Lektion für alle daraus. Später, beim Mittagessen, hatten dann die Eltern das nicht ohne Stolz vorgetragene Resultat zur Kenntnis zu nehmen, das sich wie ein Gesetz anhörte:
»Ich bin die einzige im ganzen Kindergarten, die mit Füßen treten darf!« Darauf folgte die zweite Lektion des Tages, und sie fiel anders aus als die erste, denn so besorgt der Vater um das Wohl seines Kindes war, von einem solchen Privileg wollte er nichts wissen. »Das wirst du nicht tun«, sagte er. »Wir verteilen keine Fußtritte!«
Sehr genau entsann sie sich der Zeit, als ihr der Sinn der vielen Capes aufging, die die Eltern schon früh angeschafft hatten. In jedem Lebensalter der Tochter hatte es davon mindestens ein halbes Dutzend im Haus gegeben. Vor allem an heiße Sommertage erinnerte sie sich, an denen ihr das ständige Eingehülltsein lästig war, die Mutter aber trotz aller Proteste darauf bestand. Später durfte sie mehr und mehr selbst entscheiden, und da hingen dann jahrelang die schönen und teuren Stücke nutzlos im Kleiderschrank. Als Vierzehn-, Fünfzehnjährige trug sie sie wieder häufiger, aber es geschah weniger aus jungmädchenhafter Eitelkeit als aus der frühen Erkenntnis, daß überall das Mitleid lauerte.
Mit sechzehn Jahren erlebte sie ihre erste schwere Krise, ausgelöst durch das Gerede der Freundinnen über die Jungen und über die Männer. Sogar ein paar Erfahrungsberichte waren schon dabei. Einmal sagte die zwei Jahre ältere Monika Schümann etwas sehr Vulgäres über eine Mitschülerin. »Petra«, sagte sie, »kriegt nie einen Freund! Die muß es sich selbst besorgen.« Am Abend dieses Tages lag Marianne stundenlang wach. Immer wieder kamen ihr Monikas Worte ins Bewußtsein, mischten sich mit dem, was sie aus Büchern wußte, und dann blieb es nicht aus, daß sie sich mit der tatsächlich recht unansehnlichen Petra verglich. Und ich? fragte sie sich schließlich. Ich könnte ja nicht mal das!
Als Achtzehnjährige hatte sie ihr erstes sexuelles Erlebnis. Mit einem Angestellten ihres Vaters. Nach einem Fest. Die letzten Gäste waren abgefahren, und auch die Eltern hatten sich schon zurückgezogen, da ging sie – es war nachts gegen drei Uhr – noch einmal durch die Ställe und stieß auf den um fast dreißig Jahre älteren Bernhard. Der tat etwas, was ihr sehr gefiel. Er rieb eine Stute, die an einer Stollbeule litt, mit Jodvasogen ein, und auf ihre Frage, wieso nachts um drei, antwortete er: »Na ja, alle werden nach dem Fest länger schlafen, und darum mache ich es jetzt.« Sie half ihm, und dann verließen sie zusammen den Stall. Sie hatte zwar viel getrunken in dieser Nacht,
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