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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Mensch«, so hieß es da, »dann rollen die Millionen.« Gemeint war die Ausrichtung der Olympischen Spiele von München, bei der es ein leichtes gewesen war, zwei Milliarden Mark flüssigzumachen, während die Contergan-Opfer, was die staatliche Hilfe betraf, sich im wesentlichen durch ein Sozialhilfegesetz abgefunden sehen sollten, das lange vor Contergan beschlossen worden war. Später dann erklärte auch der Staat sich bereit, zusätzliche Mittel zur Verfügung zu stellen.
    Die Golombeks blieben, da sie vermögend waren und auf fremde Geldmittel verzichteten, von der zweiten Schlacht, der um die Finanzen, unberührt. Sie zahlten aus eigener Tasche große Summen, sei es für die immer wieder unternommenen, aber vergeblichen Bemühungen, mit Hilfe pneumatischer Prothesen ihrer Tochter mehr Beweglichkeit zu verschaffen, sei es durch Besuche bei den besten Fachärzten der Welt, oder sei es für sonstige Hilfsmaßnahmen, die zwar auch mit Therapie, aber mehr mit der des seelischen Bereichs, zu tun hatten und zu denen jetzt auch die Chile-Reise gehörte.
    Als Marianne ihr Examen abgelegt hatte, schien die Gefahr eines Rückfalls in Verzweiflung oder Resignation gebannt. Es gab ein Fest, wie es der große Dielenraum des Hauses seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte. Weit über hundert Gäste waren eingeladen: Kommilitonen, Professoren, Pferdezüchter, Bauern, Jäger, Freunde, Nachbarn und Verwandte, und für die Eltern war es ein ganz besonderes Ereignis, daß Marianne in dieser Nacht ausdauernder und hingebungsvoller tanzte als alle anderen. Souverän, elegant und fröhlich schwebte sie durch den Raum und zog alle Blicke auf sich. Die Flügel, die keine noch so barmherzige Namensgebung davor verschonte, das zu sein, was sie waren, nämlich verkümmerte Gliedmaßen, sah man nicht. Sie waren verborgen unter einem weißen Seidenvolant, und die Männer hielten die Tanzende bei den Hüften. Der Anblick der immer wieder von wechselnden Partnern behutsam und dennoch mit viel Schwung durch die Diele geführten Tochter des Hauses ließ vergessen, daß sie beim Festmahl gefehlt hatte, und ihr Lachen sorgte dafür, daß, wenn sie zwischen den Tänzen mal verschwand, niemand sich fragte, wohin. Die Eltern indes wußten, sie ging zu Laura in die Küche, um dort aus ihrem Champagnerglas zu trinken.
    Das war doch, dachte Frank Golombek, wirkliche Lebensfreude damals! Ich hab’ sogar gesehen, daß der junge Fehrenkamp sie küßte und daß es ein langer und zärtlicher Kuß war, nicht nur von ihr aus. Vielleicht, dachte er dann, wird auch Alejandro sie küssen wollen. Sie ist ja wirklich ein sehr schönes Mädchen!

7.
    Marianne liebte es, ihre Stute Cara ohne Sattel zu reiten. Auch an diesem Nachmittag hatte sie auf den Sitz verzichtet, hatte dem Tier nur das Kopfstück und die Zügel angelegt und war dann von der kleinen, eigens für sie errichteten Rampe aus aufgestiegen. Sogar die Steigbügel hatte sie im Stall hängen lassen.
    In der Regel machte, wenn sie so halbgeschirrt davonreiten wollte, ihr Vater Schwierigkeiten. Doch diesmal hatte es den fürsorglichen Einspruch nicht gegeben, denn gleich nach dem Mittagessen waren die Eltern aufgebrochen, um zum Flughafen zu fahren. »Ich will für ein paar Tage nach Kopenhagen«, hatte der Vater bei Tisch erklärt, und die Mutter hatte nicht nur ihr Einverständnis, sondern auch ihr Verständnis bekundet. »Er möchte«, hatte sie gesagt, »mal wieder mit jemandem reden, der schon seit der Kindheit zu seinem Leben gehört; das kann ich ihm nachfühlen.« Und dieser Jemand, Marianne wußte es aus vielen Erzählungen, war Paul Levsen, der Schulfreund, der im Anschluß an sein Studium nach Dänemark gegangen war und immer noch dort lebte.
    So hatte diesmal nur der Stallmeister Joseph neben der Rampe gestanden, und er hatte geseufzt: »Ich werde dich nicht verraten, aber daß ich bei diesem Anblick ruhig bleibe, kann ich nicht grad behaupten!«
    Die Menschen in ihrer Umgebung waren alle mit Pferden aufgewachsen und kannten das Abenteuer also schon aus der Kinderzeit: sich sommertags, möglichst leichtbekleidet, auf die Koppel zu begeben, den Braunen oder den Schwarzen oder den Schimmel – Reitpferd oder Ackergaul – heranzurufen, sich auf seinen Rücken zu schwingen und dann, die Hände in die Mähne verkrallt, davonzujagen. Aber daß sie, der schon bei den Händen nur der halbe Halt gewährt war, auch noch bei den Füßen auf die Sicherheit verzichten wollte, das begriff niemand. Und

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