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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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aber immer, wenn sie an ihre Begegnung mit Bernhard zurückdachte, schrieb sie dem Wein keine besondere Bedeutung zu, wohl aber der Sorge des Stallmeisters um das kranke Tier. Jedenfalls sagte sie damals ganz unvermittelt: »Ich reite jetzt ins Blockhaus. Wann fängt Ihr Dienst an?«
    »Morgen erst um neun.«
»Dann können Sie ja leicht rechtzeitig zurück sein.« Sprach’s und ließ den verdutzten Mann stehen, kehrte in
    den Stall zurück, holte ihre Stute aus der Box und ritt davon, auch damals schon ohne Sattel und ohne Steigbügel. Und Cara trug sie durch die dunkle Nacht so sicher wie in einer Sänfte. Es war ihr schönster Ausritt bis dahin, denn nie zuvor war sie nachts ausgeritten und also auch noch nie so vollkommen dem Gespür des Tieres überlassen gewesen. Und hinzu kam die Erregung: Folgt er mir oder nicht?
    Nur zehn Minuten hatte sie auf der Pritsche gelegen, da hörte sie von draußen das Schnauben und Wiehern der Pferde, die sich begrüßten. Und gleich darauf ging die Tür.
    »Bitte, laß es dunkel!«
    Er tastete sich durch den Raum, und dann setzte er sich zu ihr auf die Bettkante, machte kein Wesens aus ihrem Handicap und ebensowenig aus seiner nicht gerade rühmlichen Rolle als verheirateter Angestellter ihres Vaters, sondern nahm, wie sie, diese Nacht als eine Besonderheit, die an nichts gemessen werden konnte und für die keine Rechenschaft gefordert wurde.
    Er zog sie aus, schlüpfte dann selbst aus seiner Kleidung und legte sich zu ihr, als sei es das Selbstverständlichste von der Welt. Sie roch, daß er geduscht hatte, roch aber auch noch etwas anderes, einen Rest Jodvasogen an seinen Händen.
    Einmal sagte er: »Dreh dich um!« Sie legte sich auf den Bauch, und kaum war das geschehen, da ging ihr durch den Kopf: Stört es ihn womöglich, daß da … keine Arme sind, die seinen Hals umschlingen? Aber dann sagte er auch schon: »Ich steh’ nämlich auf Ärsche, und du hast von allen, die der liebe Gott ausgeteilt hat, den schönsten!« Da zählte selbst das frivole Wort nichts angesichts ihrer grenzenlosen Erleichterung. Frühmorgens ritt er davon, und einige Tage später verließ er mit seiner Familie die Golombeks, aber das hatte nichts mit jener Nacht zu tun. Sein Vater war gestorben. Er mußte dessen Hof übernehmen, und Joseph rückte auf zum Stallmeister. So blieb Mariannes Erlebnis unangetastet, und seither war ihr das Blockhaus, wenn sie Sorgen hatte, ein Ort der Zuflucht. Wie auch jetzt.
    Sie stand auf, machte Feuer im Herd und kochte sich einen Kaffee, trank ihn an dem klobigen Tisch, der aus Eichenholz gefertigt worden war und den ihr Vater partout zwei Zentner schwer hatte haben wollen, damit ihn niemand wegholte.
    Ihr zweites Erlebnis war komplizierter. Ein einarmiger Mann, und genau das war, jedenfalls aus der Rückschau, das Problem. Sie war zwanzig Jahre alt und verbrachte einen Teil der Semesterferien mit ihren Eltern in Spanien. Sie hatten für vierzehn Tage ein Haus in Tarragona gemietet. Sie konnte damals schon fließend Spanisch, und so gab es, was die Verständigung betraf, keine Schwierigkeiten bei der Begegnung mit dem Skipper Valentine Eines Tages nahm er sie mit auf seinen Kajütkreuzer. Gleich nach dem Ablegen sagte er: »Wir sind zwar eine verkrüppelte crew , aber wir sind Klasse!« Und dann beobachtete sie voller Faszination, wie er erst die Maschine und dann das Ruderrad bediente. Mit seinem Hakenarm, denn in der Linken hielt er die Zigarette. Von ihrer Ducht aus verfolgte sie, wie das Stück Eisen, das einem Fleischerhaken glich, in die Radspeichen griff. Die Geschichte seiner Verstümmelung hatte der Spanier ihr schon am Tag zuvor erzählt. Als Schüler hatte er eine Bombe gebastelt, die vorzeitig hochgegangen war und ihm den rechten Unterarm abgerissen hatte.
    Sie fand den Haken beinahe schön, vielleicht, weil Valentino ihn so geschickt benutzte. Als er ihr jedoch später damit über die Brust strich, war sie konsterniert und wollte sofort zurückgebracht werden. Aber dann kam seine Erklärung, und sie verblüffte sie derartig, daß sie seinen Zugriff nicht mehr für ganz so unsensibel hielt. »Ich bin Rechtshänder«, sagte er zunächst nur. Das war es noch nicht, was sie versöhnte. »Als man mir in der Klinik klarmachte«, fuhr er fort, »der Arm sei bis zum Ellbogen weg und ich müsse da eine Prothese tragen aus Holz oder Leder oder Eisen, da gab es für mich nur eins: Ignorieren! Ich wollte es einfach nicht wahrhaben, mit einer Ersatzhand, mit einer

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