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1988 VX (SM)

1988 VX (SM)

Titel: 1988 VX (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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unbedingt das Schwimmen lernen, aber Mutter und ich waren dagegen. Wir hatten Angst, du würdest dann auch im Meer schwimmen wollen, in der Brandung, in der selbst geübte Schwimmer es manchmal schwer haben, und dann sind es eben ihre starken Arme, die sie wieder ans Ufer bringen. Aber du? Markus war anderer Meinung. »Sie muß es lernen«, sagte er, »damit sie sich retten kann, wenn sie mal ins Wasser fallen sollte.« Das umwerfendste Argument aber kam von dir. Du sagtest: »Wenn ich schon wie ein Seehund aussehe, will ich wenigstens auch wie einer schwimmen können.« Du hast es dann gelernt, und Mutter und ich haben dich bewundert. Und du schwammst sogar im Meer, in Tarragona zum Beispiel, und wurdest mit den Wellen fertig. Und immer wieder hast du gesagt, wie gern du ein eigenes Schwimmbad hättest. Einmal war’s fast soweit. Der Plan war gezeichnet, der Bauantrag genehmigt, die Arbeiter kamen und wollten anfangen, doch im letzten Moment brachte ich das Projekt zu Fall, hatte plötzlich Angst, dir könnte im Wasser etwas zustoßen …
Er ließ ihre Hand los, ging an dem Sarg, der auf einem Holzgestell stand, auf und ab, auch um ihn herum, stellte sich dann wieder ans Kopfende, sah sie an.
… Ein Panzer also, einer aus dem Giftgasdepot, das wir beide so hassen! Damals, als du zur Welt kamst, die Chemie, und nun, da du sie verläßt, wieder die Chemie! Wenn es dahinten, hundert Meter von hier, das VX nicht gäbe, hätte es da auch keinen Colonel Braden gegeben. Es wäre weder zu einem Anschlag auf ihn noch zu einer Großfahndung gekommen, und der Panzer hätte Cara nicht erschreckt …
Wieder strich er ihr übers Haar.
… Mein Kind, ich werde irgend etwas tun! Die Männer mit dem Contergan hatten sich geirrt, aber die Männer mit dem VX irren sich nicht. Die wissen, was sie da gelagert haben. Warum regt sich nicht auch diesmal ganz Deutschland darüber auf? Warum duldet es ein Gift, das tausendmal schlimmer ist als Thalidomid? Kürzlich haben innerhalb nur einer Woche drei Chemiekonzerne gefährliche Pannen gehabt. Wann kommt die Panne von Wasloh? Ich schwöre dir, Marianne, ich werde irgend etwas tun!

2. Teil
1.
    Sie waren wie zwei waidwunde Tiere, Frank und Katharina Golombek, verstört, verzagt und dann auch wieder voller Aggressivität, litten zutiefst unter dem Tod ihrer Tochter, und ihr Schmerz ging bis ins Körperliche.
    Jeden Tag erkannten sie aufs neue, daß Worte nur wenig vermochten und die wohlgesetzten am allerwenigsten. Da war es schon tröstlicher, den Stallmeister Joseph neben Cara stehen zu sehen und ihn sagen zu hören: »Das Tier ist krank, und ich bin es auch; wir kommen beide nicht damit zurecht, daß Marianne nie mehr da oben sitzen wird.«
    Immer wieder mußte Markus Fehrenkamp, der Freund, der in Wasloh eine Apotheke hatte, ihnen helfen, und das in einer Form, wie er sie vor seinem Gewissen kaum noch verantworten konnte, denn die Golombeks forderten Medikamente, die eigentlich nur zur Bekämpfung schwerster körperlicher Schmerzen bestimmt waren. Er hatte sich zunächst geweigert, sie ihnen zu geben, hatte eingewandt, der Zustand, in dem sie sich befänden, müsse anders therapiert werden, mit Psycho-Pharmaka zum Beispiel, mit Tranquilizern, besser aber mit der Hilfe eines Pastors oder auch eines Psychiaters. Er hatte ihnen sogar gesagt, daß sie, wenn sie sich denn partout gegen das tägliche Leben abschotten wollten, ebensogut gleich zu Kokain oder Heroin greifen könnten. Daraufhin hatte Frank Golombek ihm zu erklären versucht, wie sehr sie litten, hatte von Herzschmerzen gesprochen, doch dann, als Fehrenkamp erkennen ließ, daß er diesen Begriff als eine lyrische Umschreibung der Trauer auffaßte, geantwortet: »Nein, so nicht! Keine Poesie! Wunden wie von einem Dolch oder einer Kugel oder einem Brandeisen!«
    Ja, und dann hatte Fehrenkamp, obwohl ihm auch diese spontane Auflistung eher poetisch als realistisch erschienen war, FORTRAL und DOLANTIN herausgerückt, hatte das getan in Absprache mit dem Hausarzt, schließlich aber, um die Suchtgefahr zu mindern, nur noch VALORON.
    Es half den Leidenden über die ersten Wochen hinweg, und plötzlich ergab sich der Verzicht darauf bei beiden wie von selbst. Katharina stieg eigentlich nur um auf einen anderen Gemütsregler, auf den Alkohol. Sie fand ihn gefälliger, ja, heiterer, schließlich auch bekömmlicher. Bald begann sie schon morgens mit einem Scotch und schwebte dann auf den Wogen zahlreicher weiterer Drinks durch den restlichen

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