1988 VX (SM)
– unterschiedlich interpretieren konnte.
Von dem Bootsverleiher in Ostende hatte er erfahren, daß der nächtliche Kunde im Büro die Mütze nicht abgenommen hatte. War das nur die heute so verbreitete Mißachtung der Umgangsformen, oder bedeutete es, daß der Besucher sich, so gut es ging, hatte tarnen wollen?
Bei dem toten Haggerty waren aufgesprungene Lippen und zwei locker sitzende Schneidezähne festgestellt worden. Waren sie das Resultat eines Kampfes, einer Folterung gar oder nichts weiter als die Spuren einer Kollision, die er auf seinem Weg von fast zweihundertfünfzig Seemeilen gehabt hatte? Oder war ihm ganz einfach bei der Explosion der Gasflasche irgend etwas ins Gesicht geflogen?
Dem Toten fehlte der Nagel des linken Mittelfingers. Er erinnerte sich, das leere Nagelbett hatte so zerklüftet ausgesehen, als hätte da jemand mit einer Kneifzange eine brutale Extraktion vorgenommen. Doch auch diese Blessur, dachte er, kann ihm auf der langen Reise durch ein Stück Treibgut beigebracht worden oder auch schon vorher durch die Explosion entstanden sein.
Na, und dann gab es noch die vielen dunklen Punkte in der Armbeuge, aber die waren, wie man ihm erklärt hatte, alt und infolgedessen nicht anders zu bewerten als die beiden Warzen in der Innenfläche der rechten Hand und die Blinddarmnarbe aus Kindertagen.
Mit dem Ausdeuten der körperlichen Beschädigungen war er also nicht weitergekommen, doch es gab eine Erkenntnis, die ihm seit nunmehr vierundzwanzig Stunden vorlag und, wie auch seine amerikanischen Kollegen aus Karlsruhe und der inzwischen aus den USA eingetroffene FBI-Agent meinten, wirklich zu Buche schlug. Sie betraf den Segler Jeff Haggerty. Er war nämlich keiner. Schon die Männer im Depot hatten ausgesagt, daß er Baseballspieler war, schnell und ausdauernd laufen konnte, auch hin und wieder vom Boxen und vom football , aber noch nie vom Segeln geredet hatte, jedenfalls nicht in der Weise, daß man annehmen durfte, er habe diese Sportart beherrscht.
Bob Towler, der Mann, der am engsten mit Haggerty zusammengearbeitet hatte, war auch in einem zweiten Gespräch seiner Sache sicher gewesen: Jeff Haggertys Dreitagesausflug ging auf die Einladung eines Mädchens zurück; und auf die Frage, wie es denn mit den Segelkünsten des Unteroffiziers ausgesehen habe, hatte er geantwortet: »Jeff hatte vom Segeln nicht die blasseste Ahnung!«
Aber Lemmert hatte in diesem Punkt ganz sichergehen wollen und darum Haggertys Familie in Winner/South Dakota angerufen. Vorher hatte er sich bei Colonel Morrison erkundigt, ob die Eltern vom Tod ihres Sohnes verständigt worden seien. Das waren sie, und so hatte er sich die Telefonnummer besorgt und von seiner Dienststelle aus mit der Frau telefoniert, die einst zur gleichen Zeit wie seine Mutter in den Wehen gelegen hatte. Das Ergebnis des Gesprächs: Jeff Haggerty hatte das Segeln nie erlernt, und deshalb stand so gut wie fest, daß nicht er es gewesen war, der die Unterredung mit dem Bootsverleiher gehabt und anschließend die COMET in die offene See manövriert hatte. Ein anderer mußte sich für ihn ausgegeben haben. Vielleicht war Haggerty in eine Falle gelockt, entführt und nach einwöchiger Gefangenschaft bei dem ostfriesischen Honnewarf in die Nordsee geworfen worden. Wenn es sich so verhielt, war der Grund für die Entführung wie auch für den Tod im dienstlichen Bereich zu suchen, denn die Recherchen hatten keinerlei Anhaltspunkte für eine private Rache ergeben.
Lemmert hatte sich noch einmal die internen und unabhängig vom BKA gesammelten Ermittlungsergebnisse der Amerikaner erbeten, und als er sie Captain Hawkins zurückgab, hatte dieser gesagt: »Nun fängt auch unser Morrison mit den Weibern an!« Er hatte dann erzählt, der neue Chef von Wasloh habe ein Verhältnis mit Katharina Golombek. Jemand habe die beiden zusammen ausreiten sehen. und später seien sie in einem einsam gelegenen Blockhaus verschwunden.
Inzwischen liefen die Ermittlungen im Fall Haggerty auf Hochtouren, aber sie stießen mehr oder weniger ins Leere, weil zu wenig verwertbare Spuren vorlagen. Schließlich konnte man nicht, wie Captain Hawkins es bissig formuliert hatte, nach einer jungen Frau fahnden, die der Vermutung nach links wie rechts sechshundert Gramm Brust ihr eigen nannte. Dennoch, der große Apparat war in Bewegung, aber daneben formte sich im Brummschädel des schniefenden und hustenden und wahrscheinlich auch noch vom Fieber befallenen Cornelius Lemmert ein
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