199 - Schlacht der Giganten
tausendsten Mal, ob nicht vielleicht doch alles seine Richtigkeit hatte, ob es nicht doch Wudans allmächtiger und gnädiger Wille war, dass sie hier in diesem Kerker lag, dazu bestimmt, ihr Leben zu opfern. Denn schließlich hatte der Wandler die Erde mit seiner Ankunft vor einem halben Jahrtausend ins Chaos gestürzt, und seine Brut, die Daa’muren, hatten seitdem unendliches Leid über die Menschen gebracht.
Plötzlich glaubte sie wieder Schritte zu hören. Sanfte Schritte, wie von einem Tier, leise und rasch.
Sie hob den Kopf. Was war das? Sie richtete sich auf den Knien auf, beugte sich über die Schenkel und lauschte. Ein Wesen war ganz in der Nähe, kein Mensch. Ein neugieriges, gutartiges Wesen. Sie erhaschte ein paar Bilder seines Geistes – eines kannte sie: ein Mann mit langen weißen Haaren, mit heller Haut und roten Augen.
Rulfan…!
Wie elektrisiert fuhr sie hoch, huschte zur Gittertür und fasste die Stäbe. Es roch nach Lupa, kein Zweifel! Der Wächter schnarchte. Etwas hechelte, tippelte aus dem Halbdunkel des Höhlenganges – ein schwarzer Lupa. »Chira«, flüsterte Aruula.
»Bist wirklich du es?«
Sie streckte die Hand aus dem Gitter, und das Tier stieß seine feuchte Schnauze in ihre Handfläche. Aruula konnte ihr Glück kaum fassen. Wie aus dem Nichts war Chira aufgetaucht! Sie hatte das Tier zuletzt gesehen, als sie Rulfan nach der Explosion am Kratersee begegnet war, aber da war es fast noch ein Welpe gewesen. Trotzdem erkannte es sie wieder.
Erstaunlich, über welchen Geruchssinn diese Tiere verfügten…
Aruula zog sofort den richtigen Schluss: Wo die Lupa war, konnte Rulfan nicht weit sein! Und wenn Rulfan in der Nähe war, dann musste auch…
»Maddrax«, seufzte sie und schlug die Hände vors Gesicht.
War er denn wirklich so nahe? »Warte«, flüsterte sie und streckte die Hand wieder nach Chira aus. »Lauf nicht fort und warte einen Augenblick.«
Als würde sie genau verstehen, ließ die Lupa sich auf die Hinterläufe nieder. Aruula aber rutschte auf den Knien durch ihren Kerker und tastete den Boden mit den flachen Händen ab.
Endlich, in einer Ecke der Grotte, fand sie, was sie suchte: einen kleinen Stein mit einer langen Spitze.
Zurück an der Gittertür, schleifte sie die Steinspitze am rostigen Metall ab. Die Wolfsmutantin beobachtete sie aus wachen Augen. Immer wieder unterbrach Aruula sich, um den Atemzügen des Wächters zu lauschen. Doch der schlief tief und fest. Endlich erschien ihr der Stein spitz und lang genug.
Aruula riss einen Fetzen Stoff aus ihrem Lendenschurz und glättete ihn auf ihrem Schenkel. Dann setzte sie die schmale Steinspitze auf die Innenseite ihres Unterarms, biss sich auf die Zähne und stach zu. Sie ritzte sich die an dieser Stelle weiche Haut auf. Blut quoll aus der Wunde. Der Wächter redete ihm Schlaf, Chira legte die Ohren an und knurrte böse. Der Wächter schlief weiter.
Aruula tauchte die Steinspitze in das Blut und kritzelte fünf Zeichen auf den Stofffetzen.
***
Tief im Osten rötete sich der Himmel. Scharf und schroff zeichneten sich die Gipfel des Ringgebirges dort ab. Nicht mehr lange, und der neue Morgen würde heraufdämmern.
Grao’sil’aana stand neben dem Sol auf einer der Verteilerplattformen einen Kilometer über dem Grund des Kraterseebeckens. Die letzten Daa’muren verließen eben die Rampen. Die meisten bevorzugten in dieser Stunde des Aufbruchs ihren echsenartigen Wirtskörper. Auch Grao’sil’aana und Est’sol’bowaan. Manche jedoch trugen menschliche Gestalt, und einige Lun, vor allem die Späher unter ihnen, benutzten die flugfähige Form, die sie in letzter Zeit entwickelt und schätzen gelernt hatten.
In dichten Reihen strömten die Daa’muren am Sol und seinem Vertrauten vorbei und stiegen zur Oberseite der Felsschichten auf, die den Wandler noch immer umgaben.
Mit vielen Millionen in erkaltete Lava eingebackenen Speicherkristallen war der Wandler einst hier aufgeschlagen.
Nur wenige Zehntausend silbrig schimmernde Echsenleiber würde er bei seinem Start in sich tragen. Die gigantische Explosion zwei Planetenumkreisungen zuvor hatte den Großteil des Volkes von Daa’mur ausgelöscht.
»Ich habe dich gefragt, was mit all den Daa’muren geschieht, deren ontologisch-mentale Substanz noch in Kristallen gespeichert ist«, sagte Grao’sil’aana. »Warum beantwortest du meine Frage nicht?«
»Nicht jede Frage verlangt nach einer Antwort«, beschied ihm der Sol knapp.
»Diese schon«, beharrte
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