1991 Atlantik Transfer (SM)
selbst, mein Schiff ist nicht sehr groß, wurden hin- und hergeworfen. Klar, daß wir bei dem Seegang keine Boote ausbringen konnten. Die Ärmsten schwammen auf uns zu. Natürlich warfen wir Rettungsringe ins Wasser und auch Leinen, aber es nützte nicht viel. Vier nur konnten wir bergen, und die anderen einundzwanzig mußten elendig ersaufen.«
Er machte eine Pause, denn ganz plötzlich war ein lichter Moment über ihn hereingebrochen. Er fragte sich, ob er nicht doch besser geschwiegen hätte. Aber die Zweifel kamen zu spät, und also beendete er seine Geschichte etwas abrupt mit der Feststellung: »Das war das traurigste Kapitel in meiner zwanzigjährigen Laufbahn als Seemann.«
Melanie hatte aufmerksam zugehört, und sie konnte sich, als ihr Gast nun nach seinen Kleidern griff und sich anzuziehen begann, durchaus eine Vorstellung machen von der Tragödie, die sich da auf dem Atlantik abgespielt haben mußte. Auch sie zog sich an, und dann folgte der Abgesang ihrer Begegnung, in der die immer wieder kuriose Mischung aus Intimität und Unverbindlichkeit die Spielregeln bestimmt hatte. Sie küßten sich nicht, gaben sich aber die Hand und vereinbarten, wieder füreinander dazusein, wenn sein Weg und ihr Job es so fügen sollten. Jonas Ellerup verließ das Lokal, und Melanie stellte sich an die Theke. Noch war kein Feierabend, aber da es ohnehin an Gästen fehlte, ließ der Keeper seine Mädchen dann doch eine Viertelstunde vor der Zeit gehen.
Melanie fuhr nach Hause. Sie hatte eine kleine Wohnung in einem Stadtrandbezirk, wo niemand von ihrem Gewerbe wußte.
Sie duschte, legte sich hin, war zufrieden mit den Einnahmen dieser Nacht, denn vor dem Dänen hatte sie einen Geschäftsmann aus Bayern gehabt, dem die Besinnung auf die gemeinsame Heimat nicht nur die Zunge, sondern auch das Geld gelockert hatte. Zwar war bei ihm nur eine Flasche auf den Tisch gekommen, aber dafür hatte er ihr einen Hundertmarkschein extra zugesteckt.
Sie schlief lange, und nach dem Frühstück, das zugleich Mittagessen war, beschloß sie, sich einen Friseurbesuch zu leisten. Sie rief in ihrem Salon an und bekam einen Termin für siebzehn Uhr. In der bis dahin verbleibenden Zeit machte sie die Wohnung sauber, bügelte ein paar Blusen und schrieb an ihre Mutter.
Um Viertel nach fünf saß sie unter der Trockenhaube, in der Hand eine Illustrierte. Da die Hitze um ihren Kopf sie nicht gerade zum Lesen animierte, begnügte sie sich mit dem weniger mühevollen Betrachten der Bilder. Und plötzlich sah sie ein Schiff. Es war kein Foto, sondern eine Zeichnung. Das Heck ging mit fast waagerechtem Schornstein in die Tiefe, und ringsherum schwammen Menschen. Der dazugehörige Bericht hatte den Titel »SOS UND KEINE HILFE …«. Darunter stand, etwas kleiner im Druck: »Der rätselhafte Untergang der MELLUM/Vierte Folge«. Noch kam ihr nicht der Gedanke, dieser Fall eines Schiffbruchs und das Unglück, von dem ihr letzter Gast erzählt hatte, könnten identisch sein; sie fand es nur seltsam, daß sie innerhalb so kurzer Zeit zweimal mit einer Tragödie in Berührung kam, die sich auf dem Meer abgespielt hatte. Sie wollte schon weiterblättern, da fiel ihr Blick auf einen Kasten, der mitten in der Geschichte saß und einen fettgedruckten Text enthielt. Er lautete: »50.000, – DM Belohnung zahlen wir demjenigen, der Auskunft geben kann über das Schiff, von dem im nebenstehenden Tatsachenbericht die Rede ist und das möglicherweise in der Unglücksnacht an der MELLUM vorbeigefahren ist, so daß nur vier der insgesamt fünfundzwanzig Schiffbrüchigen gerettet werden konnten.« Am Fuße des roten Rahmens, der den Text einfaßte, stand eine Telefonnummer.
Die Zahlen waren es, die den Kopf des jungen Mädchens noch um einige Grade heißer werden ließen, die Vier und die Fünfundzwanzig und damit natürlich auch die Einundzwanzig, von der ihr Gast gesprochen hatte. Nun las sie den Bericht, und da er sehr lang war, setzte sie sich, als sie frisiert war und bezahlt hatte, noch einmal zu den Wartenden, um ihre Lektüre zu beenden. Zwar stieß sie auf ein paar Ungereimtheiten, die es zwischen dem gedruckten Bericht und der Erzählung des dänischen Seemanns gab, aber die Vier und die Fünfundzwanzig und also auch die Einundzwanzig stimmten überein. Das konnte doch kein Zufall sein! Diese Übereinstimmung beschäftigte sie um so mehr, als da noch eine weitere, sehr gewichtige Zahl eine Rolle spielte: die Fünfzigtausend!
Sie notierte sich die Telefonnummer,
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