1991 Atlantik Transfer (SM)
seine Mutter: »Mein Gott!«
»MANITOBA!« schrie Olaf plötzlich, und die kleine Stimme überschlug sich fast. »Das ist die MANITOBA, Papis Schiff!«
Alle vier starrten auf den mittlerweile nahe herangekommenen Bulkcarrier, dessen Maschinengeräusche dumpf ans Ufer drangen. Tina konnte es nicht fassen. Das Schiff vor ihren Augen war das einzige der Welt, das an diesem Nachmittag nicht an diesem Ort sein durfte.
Nora wandte sich an die Freundin: »Bestimmt gibt es etliche Schiffe mit diesem Namen.«
»Laß!« antwortete Tina. »Es ist Heinrich. Da ist auch die kanadische Flagge, und schließlich hab’ ich mindestens ein Dutzend Fotos von seinem Kasten. Übrigens, ich seh’ ihn schon, meinen Mann. Sein Gesicht kann ich nicht erkennen, wohl aber seine Gestalt. Und er hat mir Honduras geschrieben, dieser …« Sie brach ab wegen der Kinder.
Olaf aber, noch nicht eingeweiht in die Abgründe eines matrimonialen Nachrichtenwesens und deshalb auch alles andere als bedrückt, sprang auf, war einen Moment lang unschlüssig, was günstiger sei, ein paar Meter höher zu stehen und weiter weg oder etwas tiefer und dafür näher, entschied sich für den höchsten Punkt der Böschung, rannte also hinauf, stellte sich sogar auf die Zehenspitzen und winkte und schrie sich die Seele aus dem Leib: »Papi! Papi!«
Auf der Brücke entstand Bewegung. Der Mann, den Tina inzwischen definitiv erkannte hatte, wodurch nun auch die Möglichkeit eines überraschenden Schiffswechsels entfallen war, winkte zurück, das heißt, er hob die Rechte halb hoch, aber dann erstarrte sie mitten in der Bewegung, verhielt einen Moment, sank wieder herab, und kurz darauf kam mit einem Ruck das Glas vor die Augen.
Jetzt war das Heck auf gleicher Höhe mit den vier Menschen am Ufer. Auch Nora und Peter winkten. Tina winkte nicht. Wie versteinert saß sie auf der Wolldecke, sah nicht mehr hinüber zur MANITOBA, sah ins Gras. Sie war verletzt, kam sich vor wie eine Frau, die soeben das Auto ihres Mannes vor der Tür seiner Geliebten entdeckt hat. Sie wußte genau, für diese fast unheimliche Begegnung gab es keine Erklärung, die geeignet wäre, sie zu besänftigen. Da das Schiff von der Ostsee kam, der letzte Brief ihres Mannes jedoch in den USA geschrieben worden war, mußte es kürzlich sogar schon einmal eine Kanaldurchfahrt gegeben haben, nämlich in entgegengesetzter Richtung, und also wohl auch einen nahen Hafen für die Liegezeit, Kopenhagen vielleicht, vielleicht Malmö, am Ende Rostock oder gar Lübeck, jedenfalls einen Ort, von dem aus Kiel in Stundenfrist zu erreichen gewesen wäre. Selbst Leningrad wäre vermutlich nicht zu weit gewesen, und wenn doch, dann existierten ja immer noch die Kanalstationen, an denen sie für die Dauer der Durchfahrt an Bord gestiegen wäre. Ein kurzer Anruf von See, und sie hätte Bescheid gewußt. Aber offenbar sollte sie nicht Bescheid wissen! Und womöglich würde in den nächsten Tagen ein verlogener Brief aus Honduras im Kasten sein; mit Briefmarken, die stimmten, weil irgendein Seemann ihn in perfider Solidarität an Ort und Stelle aufgegeben hatte! Heinrich Nielson, der noch immer auf der Nock hin und her ging, verscheuchte die alte Geschichte. Das Wasser unter seinem Schiff war nicht der Graben, sondern Old Man River, der Mississippi, und New Orleans war fast erreicht.
Er freute sich auf den Landgang. Zwar war sein puerto favorito, sein Lieblingshafen, nach wie vor Veracruz, aber gleich danach rangierte New Orleans, das als Folge der wechselvollen Südstaatengeschichte mit so unterschiedlichen architektonischen Hinterlassenschaften aufwartete wie französischen Mansarden, spanischen Patios und maurischem Zierat, wenn auch heute mehr und mehr die Betonklötze der Neuzeit das Erscheinungsbild bestimmten. Ja, er liebte das Flair dieser Stadt, war einmal sogar, zusammen mit Abertausenden ihrer Bewohner, durch die Straßen gezogen und hatte den Karneval mitgefeiert, den Mardi gras, wie das Fest hier genannt wurde. Da mit einer Liegezeit von drei, vier Tagen zu rechnen war, wollte er alte Freunde wiedersehen, Mortimer Grove zum Beispiel, den Rinderzüchter, der im Westen der Stadt einen Palast besaß und der ihn vor langer Zeit fast dazu überredet hätte, der Seefahrt den Rücken zu kehren und Verwalter einer Plantage zu werden.
Und Bruce Brenton würde er besuchen, den schwarzen Barmann aus der Bourbon Street, dem er eine ganze Nacht lang sein Leben erzählt hatte, und vielleicht sogar Rosalie, die
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