1991 Atlantik Transfer (SM)
Kollegen begehrten Posten eines Kanal-Lotsen annehmen; das hieße ja, nur in einem Graben hin- und herzufahren. Mit den Kindern ein Picknick an eben diesem Graben zu veranstalten war also Noras Vorschlag gewesen, und Tina hatte zugestimmt.
Die beiden Jungen, Olaf und Peter, im Alter gleich, liebten es, auf der grasbewachsenen Kanalböschung zu sitzen, die vorbeifahrenden Schiffe zu betrachten und dabei einen Wettkampf durchzuführen, der allerdings mit keinerlei Leistung verbunden war, denn es ging darum, daß der eine die von Westen und der andere die von Osten kommenden Schiffe als seine eigenen ansah, und wer am Schluß die größere Anzahl für sich verbucht hatte, war Sieger. Was den Kindern außerdem großes Vergnügen bereitete und auch den beiden Frauen gefiel, war die gründliche Inspektion der Vorbeiziehenden und ihrer Eigenheiten wie Namen, Flaggen und Heimathäfen; auch Größe, Typ und Zustand wurden begutachtet.
Sie packten also Proviant und Wolldecken ins Auto und fuhren zunächst um die Horn und ins Zentrum von Kiel, dann aber nicht zur Holtenauer Schleuse, weil es ihnen da zu städtisch war, sondern nach Kronshagen und Ottendorf und weiter bis an die gut hundert Meter breite Wasserstraße. Dort suchten sie sich einen Platz.
Die Kinder begannen sogleich mit ihrem Spiel. Zunächst galt es, jedem eine Fahrtrichtung zuzuweisen. Olaf, der beim Werfen mit der Münze gewonnen hatte, durfte wählen. Er entschied sich für die von Westen kommenden Schiffe. Sie hielten Notizblöcke und Stifte bereit, um ihre Strichlisten zu führen, nicht nur über die eigenen Schiffe, sondern auch über die des anderen, damit sich keine Mogeleien einschleichen konnten.
Zunächst kam, von links wie von rechts, das wechselvolle Aufgebot einer normalen Kanalstunde mit Kümos und Frachtern, Segelyachten und kleinen Tankschiffen. Auch waren von Schleppern gezogene Schuten dabei, die aber, da aneinandergekoppelt, als eine Einheit galten. Um zwei Uhr, als gegessen werden sollte, stand es neun zu sieben für Peter, und weder von Ost noch von West waren Schiffe gekommen, die wegen ihrer Größe oder ihrer Herkunft Anlaß zum Staunen gegeben hätten.
Auch während des Essens wurde gezählt, denn der Gefahr, durch die Pause womöglich ins Hintertreffen zu geraten, wollte keiner der beiden sich aussetzen.
Um Viertel vor drei hatte Olaf aufgeholt. Es stand vierzehn zu vierzehn. Dann kamen, kurz nacheinander, zwei aufregende Schiffe. Die von Peter verbuchte Nummer fünfzehn war ein U-Boot der Bundesmarine, und diesmal fiel das Winken der beiden Jungen besonders heftig aus. Es begeisterte sie, daß ihnen vom Turm mit einer Signalflagge geantwortet wurde. Olafs Nummer fünfzehn, die nur drei Minuten später auftauchte und schon von weitem als ein dicker Brocken auszumachen war, stammte aus Frankreich und hatte mindestens 30.000 Tonnen.
Es war ein Passagierschiff. Beim Anblick der schneeweißen Bordwände und Aufbauten und der vielen Menschen auf den verschiedenen Decks wurde nicht nur den kleinen Buchhaltern das Herz weit, sondern auch den beiden Frauen, die sogleich meinten, ein solcher Luxusliner stünde ihren Männern gut an, besser als alle noch so gewaltigen Kohle- und Erzdampfer, Stückgutfrachter und Containerschiffe. Etwas wehmütig sahen Tina Nielson und Nora Sanders dem in Richtung Ostsee dahinziehenden Franzosen nach, der in ihnen Bilder weckte von eleganten Speisesälen und blitzsauberen Promenadendecks, von Bordfesten und Sonnenbädern am Schwimmbad und nicht zuletzt vom Kapitänstisch, an dem jeder Passagier wenigstens einmal während der Reise gespeist haben wollte. Doch dann kehrten sie in die Wirklichkeit zurück. Nora wußte ihren Mann mit einer Ladung Öl im Persischen Golf, und in Heinrich Nielsons letzter Nachricht an seine Frau war von einer Weizenlieferung nach Honduras die Rede gewesen.
Bei den Kindern stand es inzwischen neunzehn zu achtzehn zugunsten Olafs, doch das Unentschieden bahnte sich bereits an, und zwar in Form eines respektablen Frachters, der von Osten nahte. Peter meinte, das Ding habe an die fünfzehntausend Tonnen, aber seine Mutter widersprach ihm. Sie sagte, das Schiff sei höchstens halb so groß; es wirke nur so gewaltig, weil es leer sei und deshalb weit aus dem Wasser rage.
Langsam kam der Frachter näher. Olaf kniff, obwohl er die Sonne im Rücken hatte, die Augen zusammen und versuchte, den Namen vom Vorsteven abzulesen: »MA … MA … MAN …«
Da meldete sich, ganz leise, auch
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