1991 Atlantik Transfer (SM)
Stapel Luftpostbriefe. »Anfang Februar?« fragte sie und setzte ihre Brille auf.
»Ja, so ungefähr.«
Mit großer Sorgfalt ging sie nun die Briefe durch, fand schließlich den, nach dem sie gesucht hatte, entnahm dem Umschlag einen engbeschriebenen Bogen, faltete ihn auseinander und legte ihn auf den Tisch. »Ja«, sagte sie, »achter Februar, Philadelphia.«
»Das ist ganz nah bei Baltimore«, meinte Wulf Maibohm. Und dann log er der alten Frau die Hucke voll: »Es ist doch immer wieder ein Glücksspiel! Wir Seeleute fahren ein Leben lang um die Welt, immer ohne unsere Angehörigen, und oft sind mehrere Männer aus ein und derselben Familie unterwegs, und wenn sich dann mal zwei von ihnen treffen, in Hongkong vielleicht, dann ist das ein Fest, größer als jeder Geburtstag. Mein Großvater war auch Seemann und zwei seiner Söhne ebenfalls. Und, was soll ich Ihnen sagen? Einmal lagen ihre Schiffe zur selben Zeit in Kalkutta! Das war der reinste Wahnsinn. Der Vater und seine beiden Jungs treffen sich durch Zufall zehntausend Kilometer von zu Hause entfernt. Da war vielleicht was los!«
Jacob Thaden, der genau wußte, daß es in der Familie seines Freundes gerade mal einen angeheirateten Vetter gab, der Medizin studiert und anschließen zwei Reisen als Bordarzt gemacht hatte, fand die Geschichte ein bißchen zu dick, aber dann sah er der betagten Seemannsmutter in die leuchtenden Augen und war beruhigt.
»War die Reise nach Philadelphia, also die vom Februar, genauso schlimm wie unsere?« fragte Maibohm. »Wir hatten einen furchtbaren Sturm. Woher kam die CAPRICHO denn, als sie Philadelphia anlief?«
»Ich glaub’, aus Irland.« Wieder durchsuchte sie die gestapelten Briefe, holte schließlich eine Ansichtskarte hervor. »Ja, die ist aus Belfast.«
»Von wann?«
»Vom sechzehnten Januar.«
»Und die Fahrt über den Atlantik ging ganz glatt?« Sie nahm noch einmal den Philadelphia-Brief auf, überflog ihn.
»Von einem Sturm schreibt er nichts, aber er beklagt sich über das vergammelte Schiff. Das tut er immer. Seine Kammer nennt er nur sein Elendsquartier.«
»Und wer ist der Kapitän auf der CAPRICHO? Vielleicht kennen wir ihn.«
»Das ist ein Deutscher. Nielson heißt er.«
Die Freunde, so schön am Ball, setzten das Gespräch fort und speicherten in ihren Köpfen jede Einzelheit, die ihnen wichtig erschien. Zum Schluß fragte Jacob Thaden: »Und wohin fährt Ihr Sohn jetzt?«
»Erst nach Kolumbien und dann nach New Orleans. Aber für Kolumbien liegt der Hafen noch nicht fest. Es kann Santa Marta werden, aber auch Baranquilla oder Cartagena. Er hat mir die drei Häfen auf dem Atlas gezeigt. Welcher es dann wird, das entscheidet sich erst kurz vor der Ankunft. Nur New Orleans ist sicher.«
Sie bedankten sich bei der alten Frau und wollten gehen, da sagte sie: »Ich hab’ vorhin an der Tür Ihre Namen nicht so richtig verstanden.«
»Ich bin Fred Esser«, antwortete Maibohm, »und mein Freund heißt Rüdiger Pahlke.«
Sie schrieb die Namen auf einen der Briefumschläge. Als sie im Auto saßen, atmete Jacob Thaden tief durch.
»Ich glaube, wir haben das Schiff gefunden!«
»Sagen wir mal, wir haben eine Spur, und nun kommt’s darauf an, unsere Informationen abzusichern.«
»Wo willst du nachfassen?«
»Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Vielleicht ist die CAPRICHO irgendwann in die Schlagzeilen geraten, und damit wäre sie im Archiv meiner Zeitung. Dann haben wir Theo Hagemeister in der Redaktion, unseren Schiffahrtsexperten; der weiß ’ne Menge. Außerdem ruf ich beim VERBAND DEUTSCHER REEDER an; vielleicht kennt da jemand den Kapitän Nielson. Die Reederei der CAPRICHO kriegen wir auch raus, wahrscheinlich über LLOYD’S SHIPPING INDEX. Die US-Coastguard in Philadelphia weiß sicher auch was, zum Beispiel über die Liegezeit der CAPRICHO im Februar, und möglicherweise kann mir der Mann bei AMVER jetzt doch weiterhelfen, weil ich mit exakten Angaben
komme.«
»Und wenn wir alles beieinanderhaben und dann immer noch sagen, es könnte unser Schiff sein, was machen wir dann?«
»Dann fliegen wir Anfang September nach New Orleans.«
»Oder schon vorher nach Kolumbien.«
»Nein, das ist bei drei in Frage kommenden Häfen zu unsicher. Außerdem besteht ja die Möglichkeit, daß wir den Kapitän gleich bei unserem ersten Besuch überführen, und dann träten auch die Behörden auf den Plan. Mit denen aber hätten wir es in den USA viel leichter
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