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1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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war Georgine an diesem Morgen mit den Vorbereitungen für seine Ankunft beschäftigt. Vor anderthalb Stunden hatte er angerufen und gesagt, er komme zwischen zehn und elf Uhr. Jetzt war es Viertel nach neun. Obwohl offengeblieben war, wie lange er bleiben würde, hatte sie sein Zimmer gelüftet, das Bett bezogen und die Heizung angestellt.
    Warum es ihn nach so langer Zeit in die Abgeschiedenheit des großelterlichen Hauses zog, hatte er ihr auch nicht gesagt, hatte auf ihre Frage nur geantwortet, er wolle sie besuchen. Das allein, dachte sie, kann aber nicht der Grund dafür sein, daß er die vielen Kilometer auf den winterlichen Straßen zurücklegt, noch dazu an einem Werktag, also wird er wohl die Nase voll haben von dem ganzen Durcheinander und ausspannen wollen. Um halb zehn begann sie, im Pesel den Frühstückstisch zu decken. Im Gegensatz zu Olaf setzte John sich niemals zu ihr in die Küche. Er zog es vor, die Mahlzeiten allein einzunehmen, wie er überhaupt immer einen gewisssen Abstand wahrte. Dabei hab’ ich ihm, dachte sie, während sie die Porzellanstücke aus dem Teeschapp nahm, vor fast fünfzig Jahren mehr als einmal die Rotznase geputzt und den Hintern abgewischt! Aber er ist eben nach seinem Großvater geschlagen, der so oft gesagt hat: »Wenn man dem Gesinde nicht immer wieder zeigt, wo seine Grenzen sind, wird es leicht zum Gesindel.« Sie lächelte vor sich hin, denn da war ja ein weiteres Familienmitglied sehr eigensinnig mit der Rangordnung verfahren! Sie stellte die Schale mit dem Rosenmuster und dem – so hatten die Töchter des Hauses ihn immer genannt – gehäkelten Rand auf den Tisch, setzte sich und verweilte bei dem dickköpfigsten der Theunissens. Der hatte, was den Sinn für Standesunterschiede betraf, seinen Vater noch übertroffen und tatsächlich die Auffassung gehabt, Mägde seien wie ein Eigentum. Sie verlor sich an die alte Zeit, träumte von den anderen Tagen der Familie, in denen es nicht um Kampf und Mord und ein versenktes Schiff gegangen war, sondern um die Viehhaltung, die Ernte und den Zusammenhalt, geriet aber, ob sie es nun wollte oder nicht, immer wieder an den einen, der sie, da war sie noch keine vierundzwanzig Stunden im Haus, in eine der Pferdeboxen zerrte und küßte. Die Ohrfeige, die sie ihm daraufhin geben wollte, fing er ab, kugelte ihr dabei fast den Arm aus, so daß sie aufschrie. »Du willst es doch auch!« sagte er. Obwohl es so viele Jahre her war, erinnerte sie sich genau. »Nein, ich will es nicht.«
    »Doch, du weißt es bloß noch nicht.«
»Quatsch! Und überhaupt, wenn dein Vater uns erwischt, flieg’ ich hier raus, kaum daß ich die erste Kuh gemolken hab’.«
    »Du fliegst nicht raus, dafür sorge ich schon. Also heute nacht.«
    »Nein.«
    Ein paar Stunden später war er dann gekommen. Mit Getöse. Die Mägdekammern hatten weder Schlüssel noch Riegel, und darum hatte sie vorsichtshalber ihr Bett an die Tür geschoben. Aber der Ungestüme hatte sich dagegen gestemmt, und sie war, ähnlich wie der kleine Häwelmann, ein Stück durchs Zimmer gefahren. Dann hatte er dagestanden.
    »Du bist verrückt, Claas Theunissen! Morgen sprech’ ich mit deiner Mutter.«
    »Meine Mutter spricht nicht über so was.« Mit diesen Worten hatte er sich über sie gebeugt, ihr das Nachthemd aufgeknöpft, gleich darauf zugegriffen und gesagt: »Die beiden sind so stramm, daß man Läuse darauf knacken könnte.«
    Und dann war das Wunder geschehen. Von einem Moment zum anderen war Schluß gewesen mit seinen ruppigen Worten. Er hatte ihre Brüste gestreichelt, so sanft, daß sie bis in die Zehen erschauert war, und je länger diese magnetischen Hände sie berührten und je wieter sie ausschweiften, desto mehr verloren sich ihre Ängste, bis es keinen Gedanken mehr gab an Gefahr oder auch nur an Unschicklichkeit und sie ihn gewähren ließ, ja, sich mit Lust seinen Wünschen und seiner Führung anvertraute.
    Sie sah auf ihre eigenen Hände, die jetzt welk und knöchern waren und ihr nur allzu deutlich zeigten, wie lange das zurücklag. Und da der Anblick schwer zu ertragen war, ging sie in die Küche und schenkte sich einen Genever ein, gleich darauf den zweiten. Doch wenn sie geglaubt hatte, damit würde sie ihre Erinnerungen vertreiben, so hatte sie sich geirrt. Für eine Weile vergaß sie sogar, daß Besuch ins Haus stand. Claas Theunissen, den sie aus ihrem Kopf hatte verbannen wollen, kehrte noch einmal zurück, und wie es vorher um den Beginn ihrer

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