Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
Vom Netzwerk:
überquerte die Plaza Áníbal Pinto, ging die Esmeralda und die Avenida Prat entlang, erreichte die Plaza Sotomayor, bog rechts ab und befand sich schließlich in einem der belebtesten Viertel, denn rechter Hand lag der Bahnhof, linker Hand ein großer, trotz der späten Stunde noch sehr besuchter Markt, auf dem Volkskunst feilgeboten wurde. Und direkt vor sich sah er die Schiffe liegen, große und kleine, sah Kräne und Container, Seeleute, Hafenarbeiter, Zollbeamte, sah alles das, was nun schon gut ein Jahr lang zu seiner Welt gehörte.
    Unter anderen Umständen hätte er auch diesen Aufenthalt, wie er es bei seinem vorangegangenen Besuch getan hatte, in vollen Zügen genossen, hatte mit Behagen das Flair der nicht besonders großen, aber sehr vitalen und freundlichen Stadt geatmet. Vielleicht hätte er sogar Jenny und die Kinder bei sich gehabt, und es wäre ein großes Erlebnis zu viert daraus geworden. Doch so, wie die Dinge nun mal lagen, reichte es nur für eine flüchtige Aufmerksamkeit.
    Er ging durch bis zum Kai, hatte plötzlich einen etwa fünftausend Tonnen großen chilenischen Frachter mit Namen MAIPO vor Augen, erinnerte sich vom intensiven Landkartenstudium der letzten Tage her daran, daß ein südlich von Santiago gelegener Vulkan so hieß.
    Lange blieb er dort an der Kaimauer und beobachtete den Ladevorgang, der in dem künstlichen Licht gespenstisch wirkte, zumal das Schiff auch Kühe lud, die, mit breiten Ledergurten festgezurrt, wie riesige Marionetten durch die Luft schwebten. Auf dem Hauptdeck sah er den Ladungsoffizier stehen. Der kriegt wenigstens mit, was da zu ihm an Bord kommt, dachte er, und in seinen Konnossementen wird es ganz korrekt heißen: Vacas. Kühe.
    Er verspürte Hunger, verließ den Hafen, ging in ein Lokal, suchte sich einen Platz am Fenster, von dem aus er das spätabendliche Straßengeschehen verfolgen konnte, und bestellte eine Paella. Schon nach fünf Minuten wurde sie ihm serviert. Er fand den Reis ein bißchen zu weich, die mariscos aber delikat, man konnte sie an diesem Ort mit der Gewähr essen, daß sie fangfrisch waren. Da er im Flugzeug reichlich Bier und dann im LOS ANDES auch noch den schweren vino tinto getrunken hatte, nahm er nun ein Mineralwasser und nach dem Essen Kaffee. Es war ein zwiespältiges Gefühl, die so fremdartige Stadt zu erleben und dabei genau zu wissen, daß sie für ihn nur eine Station auf seiner Jagd war. Aber ich komme zurück, dachte er, vorausgesetzt, ich bringe alles zu einem guten Ende. Er hatte schon immer gern über Chile nachgelesen, und eine ganze Menge wußte er von Onkel Claas, so auch die kleine Geschichte, wie Valparaiso zu seinem Namen gekommen war. Als zur Zeit der Conquista der spanische Ritter Juan de Saavedra mit dreißig Reitern nach langem, beschwerlichem Ritt durch die trostlose Wüste und über die kahle, kalte Kordillere endlich das blühende Tal von Quintil erreichte, bewegte ihn der Anblick der grünen, mit Blumen übersäten Hügelhänge derart, daß er der Gegend den Namen seiner spanischen Vaterstadt gab, Tal des Paradieses. Doch so paradiesisch, wie die Region dem Ritter damals erschien, war sie heute nicht mehr. Die Landschaft war zwar dieselbe, und das Grünen und Blühen ringsum war unvermindert vorhanden, aber die Menschen darin fühlten sich zu einem großen Teil ganz sicher nicht wie im Garten Eden. Ihr Lebenskampf war hart und wurde obendrein mit höchst unterschiedlichen Mitteln geführt. Die wenigen Reichen hatten ihr Schäfchen im trocknen, das Heer der Armen jedoch darbte. In unmittelbarer Nähe der großen Geschäftshäuser und Hotels, der Banken, der Theater und Kinos und Luxusvillen hatte er die Rotos gesehen, die Kaputten, die, in Lumpen gekleidet, durch die Straßen gingen, bettelten und stahlen oder aber lethargisch in Hauseingängen hockten. Wie oft hatte Onkel Claas über diesen Kontrast gesprochen! Sein Weg hatte ihn fast täglich zur Bolsa de Comercio geführt, zur Börse, einem prunkvollen Gebäude in der City. Ganz nahe bei diesem Ort des turbulenten Geldumschlags stand die Casa de Prensa, das Pressehaus, und wenn, so der Bericht des Onkels, am späten Nachmittag die Abendausgabe erschien, strömten die Austräger auf das große Portal zu. Das waren die Armen, Männer, Frauen und Kinder. Um diese Stunde aber kamen auch die Börsianer, und dann waren für eine kurze Zeit die Armen und die Reichen, die Zerlumpten und die im teuren englischen Tuch ganz dicht beieinander. Ja, dachte Olaf,

Weitere Kostenlose Bücher