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1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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dieses Bild muß Onkel Claas immer wieder beeindruckt haben, denn er hat fast jedesmal, wenn wir uns trafen, darüber gesprochen. Ihm fiel ein Zitat des Chronisten Ovalle ein, das er während des Fluges in seinem Reiseführer gelesen hatte. Da hieß es ungefähr. Es gibt in ganz Amerika kein Land, von dem größere Stabilität zu erwarten ist als von Chile, weil es dort alles gibt, was zum Leben nötig ist, Brot, Wein, Öl, Salz, Obst, Gemüse, Wolle, Leinen, Rinder, Schafe und Ziegen, also Fleisch, Milch und Leder, des weiteren Hanf, Holz, Heilkräuter, Fische, Blei, Quecksilber, Silber, Gold. Nun, jeder wußte, daß Chile weiß Gott nicht die blühende Wirtschaftsmacht war, zu der sie nach der Voraussage des Chronisten hatte werden müssen. Dabei rangierte das schmale Andenland, das sich über so unterschiedliche Klimazonen wie Wüste, Pampa, Subtropen, Regenland und Gletscherregion erstreckte, ökonomisch noch vor manch anderem Staat Südamerikas. Was mag, dachte er, der Grund dafür sein, daß der an Bodenschätzen und erzeugnissen so reiche Kontinent seine Bewohner nicht ausreichend ernährt? Wahrscheinlich, sagte er sich, hat die Geschichte die Weichen ein für allemal gestellt. Eroberung und Unterdrückung, sie finden hier immer aufs neue statt, jedes Jahr, jeden Tag. Er bezahlte, verließ das Lokal, trat hinaus in die laue Nacht, verspürte einen leichten, angenehmen Luftzug, der vom Meer kam. Auch vom Wind hatte Onkel Claas erzählt, doch nicht von diesem, der so wohltat, sondern von dem anderen, dem harten, unwirtlichen, trockenen, der manchmal, so etwa seine Beschreibung, durch die Straßen der Stadt fegt und den Menschen an die Nerven geht und den Palmen alle Poesie nimmt, weil ihre Blätter sich nicht mehr wiegen, sondern spröde knattern. Er durchschritt die Avenida Errázuriz, eine breite Straße in Ufernähe, auf der jetzt nur noch wenige Autos fuhren. Der Anblick der Fahrzeuge, die meisten waren nordamerikanische Modelle, lenkte seine Gedanken auf den nächsten Tag, der Federico, Ernesto und ihn zum Friedhof dieser chromblitzenden Karossen bringen sollte. Aber dann weckte etwas anderes seine Aufmerksamkeit.
    Aus einem der Häuser, die rechter Hand die Straße flankierten und zu denen Mietblocks ebenso gehörten wie einzeln stehende Villen, kamen zwei Kinder. Das Mädchen mochte acht, der Junge fünf Jahre alt sein. Sie traten auf den Bürgersteig und gingen dann vor ihm her. In der Linken trug das Mädchen eine an einem Drahtbügel hängende Konservendose, rechts hielt sie den Jungen. Er wollte die beiden, die ihn offenbar nicht gesehen hatten, keinesfalls erschrecken, und so verlangsamte er seinen Schritt. Doch plötzlich blieben sie stehen. Unwillkürlich machte auch er halt und beobachtete, was die Kleinen taten. Das Mädchen führte sich die Blechdose zum Mund und trank, und dann hielt sie das Gefäß dem Jungen hin, der sofort mit beiden Händen danach griff. Wie es schien, trank er gierig, und als das Mädchen ihm die Dose wieder wegnehmen wollte, hielt er sie fest. » Más no! « herrschte sie ihn daraufhin an. Da ließ er los. Sie setzten ihren Weg fort, und er folgte ihnen. Es ging immer weiter auf der langen Avenida Errázuriz. Er hätte, um zu seinem Hotel zu kommen, längst abbiegen müssen, aber er fühlte sich auf magische Weise angezogen von den kleinen Gestalten, blieb ihnen auf den Fersen.
    Einmal drehte das Mädchen sich um, sah ihn wohl auch, ja, mußte ihn sehen, denn er befand sich gerade im Lichtkreis einer Straßenlampe, aber Angst hatte sie vermutlich nicht, denn sie ging weiter, ohne den Schritt zu beschleunigen und auch ohne sich noch einmal umzuwenden. Schließlich erreichten sie die Plaza Barón. Dort traten die beiden an ein offenes Feuer. Davor saß eine Frau, die ein Baby stillte. Neben ihr schliefen zwei Kleinkinder, das eine in einer Plastikwanne, das andere in einem Karton. Das Mädchen gab der Frau, in der Olaf die Mutter vermutete, die Konservenbüchse. Sie tauchte den Finger hinein. Dann streifte sie den Drahtbügel auf einen Stab und hielt das Gefäß übers Feuer.
    Er trat etwas näher heran. Vom Gesicht der Frau war nicht viel zu erkennen, denn das dunkle Tuch, das den Säugling hielt, bedeckte auch ihr Haar und ihre Stirn. Augen, Nase, Wangen und Mund lagen im Schatten. Nur eine ihrer Brüste sah er schwach aufschimmern.
    Er griff nach seiner Brieftasche, zog eine Zehn-DollarNote heraus, beugte sich hinunter und schob das Geld vor die Füße der Frau. Ohne

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