1992 Das Theunissen-Testament (SM)
aufzublicken, nahm sie den Schein, umschloß ihn mit den Fingern. Dann setzte sie die Dose ab, behielt aber den Stab in der Hand, stieß damit gegen ein Bündel, das neben der Plastikwanne lag und sich zu regen begann. Aus einer Decke schälte sich ein Mädchen heraus, richtete sich auf, blinzelte ins Feuer.
» Ándale, lsabel!« rief die Frau.
Olaf wußte, das hieß soviel wie »Los!« oder »Nun mach schon!« Das Mädchen erhob sich. Sie mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein, hatte tiefschwarzes, lang herabfallendes Haar und sehr dunkle Augen. Ein hübsches, ernstes Gesicht sah ihn an. Sie kam auf ihn zu, nahm seine Hand. Er begriff nicht gleich, was da geschah. Erst als sie sagte: » Vamonos! « ., also ›Gehen wir!‹, begann er zu verstehen, fragte trotzdem: »A dónde? « Wohin?
»A su casa. « Und dann sagte das Mädchen es auch auf englisch: » To your house. «
Er schüttelte den Kopf, zog, nicht brüsk, aber doch sehr bestimmt, seine Hand zurück und sagte: » No. « Fragend sah sie zu ihm auf, und aus lauter Verlegenheit holte er einen zweiten Zehn-Dollar-Schein hervor und gab ihn ihr, die daraufhin seine Hand küßte. » Qué Dios le ayude « , murmelte sie.
Er hörte nur das Wort Gott heraus und nahm an, daß sie einen Segen über ihn gesprochen hatte. Er wandte sich zum Gehen, blickte dann aber noch einmal zurück und sah, wie sie sich in ihre Decke wickelte.
Er ging an der großen Plaza entlang, sah andere Feuer, andere Mütter, andere Kinder. Wo sind die Männer, die Väter? fragte er sich.
Es war weit nach Mitternacht, als er sein Hotel erreichte. Er warf noch einen Blick in die Lounge, aber sie war nun menschenleer. Er bestieg den Lift, fuhr in den dritten Stock, ging in sein Zimmer und machte sich fertig für die Nacht. Schon im Bett, las er noch die Zeitungen. Es wurde eine seltsam distanzierte Lektüre. Die fremde Sprache sorgte dafür, daß die geschilderten Ereignisse ihre Unmittelbarkeit einbüßten. Ihm war fast, als läse er von Vorgängen, die ihn nicht betrafen.
Erst gegen halb zwei löschte er das Licht, und dann wurde das, was er gelesen hatte, doch wieder sein Fall, und obwohl er sehr müde war, dauerte es noch lange, bis er einschlief.
20
Sie fuhren auf der Carretera 68, einer vielbenutzten Straße Mittelchiles, in Richtung Südosten. Es war kurz nach neun Uhr. Sie hatten den Nationalpark von Peñuelas passiert, hielten nun auf einen Ort mit dem Namen Casablanca zu, was Olaf, wenn auch nur für Sekunden, an sein Zuhause denken ließ. Vor einigen Monaten hatte er mit Jenny und den Kindern den Bogart-Film gesehen, und alle vier waren sie begeistert gewesen. Nun, dies war ein anderes Casablanca. Sie kamen durch eine Landschaft, die mit ihren Äckern und Viehweiden an mitteleuropäische Flurgestaltung erinnerte, sich dann aber plötzlich hinter einem Berg, einem Tal, einer Biegung ganz anders präsentieren konnte, weil Palmen, Kakteen und exotische Blüten das Bild bestimmten. Ihr Wagen, ein hellblauer PONTIAC, war ein schon älteres Modell. Federico und Ernesto hatten ihn vor Abschluß des Mietvertrages gründlich untersucht und keine Mängel festgestellt. Sie hatten lange überlegt, ob sie vielleicht lieber einen geländegängen Jeep nehmen sollten. Ein RENEGATE und ein WRANGLER hatten zur Auswahl gestanden. Doch schließlich war ihre Entscheidung zugunsten des bequemen Reisewagens ausgefallen, weil sie mit weiten Fahrten rechneten, also auch damit, daß sie sich am Steuer ablösen und für eine Schlafmöglichkeit sorgen müßten.
Die Wahl des Fahrzeugs fand Olafs Beifall. Er hatte es sich im Fond bequem gemacht, während Federico lenkte und Ernesto auf dem Beifahrersitz saß. Wenige Kilometer vor Curacavi machten sie halt, tranken Kaffee an einem unter freiem Himmel betriebenen Ausschank. Vor ihnen lag die Straßenkarte. Ernesto hatte auf ihr soeben den achthundertdreißig Meter hohen Cerro Tongocao gefunden und dicht daneben das Symbol für Flugplätze entdeckt. Nun entfaltete er die Karte vollends, so daß sie fast bis auf den Boden herabhing. »Es gibt in diesem Land«, sagte er, »offenbar eine ganze Kette von kleinen Flugstationen. Das finde ich beruhigend, denn wer weiß, vielleicht müssen wir plötzlich vom Norden in den Süden oder umgekehrt, und dann wären Autotouren vom Kaliber Oslo-Kairo wahre Alpträume.«
»Und Eisenbahnfahrten auch«, ergänzte Federico. Wie zur Bestätigung ihrer Worte flog gerade eine kleine PIPER über das Freiluft-Restaurant hinweg,
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