1992 Das Theunissen-Testament (SM)
Blatt auf dem Tisch lag, ging Umberto sogleich an die Arbeit. Mit der Linienführung hatte er seine Schwierigkeiten, aber die jeweilige Richtung schien wenigstens zu stimmen. Zum Schluß markierte er zahlreiche Wegweiser, in den Boden gesteckte Fähnchen, besonders auffällige Felsbrocken, bestimmte Baumgruppen und unverwechselbare Windungen der Lava-Rinnsale.
»Nach den Fähnchen«, sagte er, »dürfen Sie sich aber nur anfangs richten, weil sie zur Clubhütte führen. Hier etwa«, er zeigte auf die entsprechende Stelle im Plan, »gabelt sich der Weg. Da müssen Sie aufpassen. Rechts geht es zum Club, links zu unserer Höhle. Da liegt neben der Fahne ein riesiger Stein, in den ein Pfeil eingemeißelt ist, der nach rechts zeigt, und für Sie heißt das also. Links abbiegen! Danach geht es ein paar hundert Meter an einem Lavastrom entlang«, mit dem Finger glitt er über die Linie, »und dann kommt wieder eine Gabel, diesmal eine
aus Lava. Der Strom teilt sich. Von da aus gehen Sie im rechten Winkel auf die Schneegrenze zu. Haben Sie einen Kompaß?«
»Nein.«
»Den müssen Sie sich vorher besorgen. Sie marschieren immer in Richtung Ostnordost.«
»Das wissen Sie noch? Nach so langer Zeit?« fragte Ernesto.
»So was vergißt man nicht. Nie.« Er schlug sich mit der Faust gegen die Stirn. »Das sitzt für alle Zeit hier drin. Also, von da, wo die Lava sich gabelt, stoßen Sie nach etwa anderthalb Stunden auf die Höhle.«
»Wenn sie noch da ist.«
»Sie ist bestimmt noch da.«
25
Jacob hatte seinen Wecker auf halb fünf gestellt. Doch an diesem Morgen bedurfte es des schrillen Tons nicht, denn er war schon zehn Minuten vorher aufgewacht und hatte sich dann im Dunkeln angezogen.
Er trat ans Fenster, lugte am Vorhang vorbei nach draußen. Im Schein der Straßenlampen sah er die lange Reihe von Autos, wie sie in jedem Wohnviertel der Hansestadt die Bürgersteige säumten, entdeckte niemanden hinter den vielen Scheiben, sagte sich. Vielleicht ist ja alles nur Einbildung, und die Polizei denkt gar nicht daran, ihre Leute rund um die Uhr vor unserem Haus zu postieren.
Er verließ das Zimmer, ging über die Empore. Als er die Treppe hinabsteigen wollte, öffnete sich hinter ihm die Tür des elterlichen Schlafzimmers, und seine Mutter kam heraus. In dem schwachen Licht, das durch die hohen Dielenfenster einfiel, sah er ihren weißen Bademantel aufschimmern. Er trat auf sie zu. »Bitte, laß es dunkel!« sagte er.
»Ja.« Sie griff nach seiner Hand. »Grüß ihn ganz innig und sag ihm, in Gedanken sind wir bei ihm, immerzu!«
»Mach’ ich.« Er nahm sie bei den Schultern, küßte ihr die Wange, ging dann langsam die Treppe hinunter. Sie folgte ihm. Unten, an der Terrassentür, flüsterte sie: »Sag ihm, hier ist alles in Ordnung!«
»Mach’ ich«, sagte Jacob noch einmal.
Sie öffnete die Tür, ließ ihn hinaus in den Garten, schloß wieder ab.
Er ging gleich nach links hinüber zur Ligusterhecke, verharrte dort kurz, lauschte, hörte nichts und schlich dann bis zum Ende des Gartens, kletterte über den Zaun, lief, Bäume und Sträucher zur Deckung nutzend, über das Grundstück des Nachbarn und an der Hauswand entlang bis zum Vorgarten. Leise öffnete er die Pforte, schlüpfte auf den Bürgersteig. Danach ging er kreuz und quer durchs Viertel, sah sich immer wieder um. Es schien keinen Verfolger zu geben. Er kehrte zum Nachbarhaus zurück, ging dann noch etwa fünfzig Schritte weiter, immer entlang an den geparkten Autos, bis er auf den BMW stieß. Er stieg ein, fuhr los.
Was er schon zu Fuß getan hatte, machte er nun noch einmal mit dem Wagen, bewegte sich scheinbar planlos, in Wirklichkeit jedoch einem klaren Plan folgend, durch die Straßen, bog immer wieder ab, mal rechts, mal links. Zwar sah er dann und wann Autos im Rückspiegel, aber das beunruhigte ihn nicht, schließlich gab es auch morgens um fünf ein gewisses Verkehrsaufkommen. Er glaubte jedenfalls, nichts Gefährliches im Schlepp zu haben, fuhr zum Bahnhof.
Er parkte in der Kirchenallee, ging hinüber zu der Telefonzelle, die er schon vor zwei Tagen nicht nur ausgesucht, sondern auch. ausprobiert hatte. Bevor er eintrat, blickte er noch einmal in die Runde. Die meisten Passanten strebten zur Bahnhofshalle. Sie waren ohne Gepäck und hatten den typischen Schritt derer, die auf dem Weg zur Arbeit sind. Neben dem Eingang hockte trotz der Dezemberkälte eine Bettlerin. Sie hatte sich in eine schwarze Decke gehüllt. Er sah auch ein paar
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