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1992 Das Theunissen-Testament (SM)

1992 Das Theunissen-Testament (SM)

Titel: 1992 Das Theunissen-Testament (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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besondere Bedeutung. Wie ich schon sagte, wir machten damals unsere Bergtouren, und am liebsten gingen wir auf den Monte Osorno. Der Aufstieg ist ja auch nicht schwer, braucht allerdings seine Zeit. Er dauert ein paar Stunden, aber wegen der sanften Böschung kommt man fast ohne Klettern aus. Nur muß man manchmal Lavaströme überqueren, und das ist etwas mühsam. Ja, und als wir dann halb erwachsen waren, fünfzehn, sechzehn Jahre alt, bauten wir uns an der Schneegrenze eine Höhle. Zwar gab es schon eine Skihütte, sehr solide gemacht und ausgestattet mit Tischen und Stühlen und Betten und einem Kamin, die dem Tennis- und Skiclub Puerto Varas gehörte und in der wir auch schon mal übernachtet hatten, aber uns stand der Sinn nach was Eigenem, bei dem man nicht wochenlang vorher seinen Aufenthalt anmelden und dann hundert Regeln befolgen mußte. Wir wollten etwas, was nur uns gehörte, und so schleppten wir Holz, Zement, Dachpappe, Glas und Werkzeug nach oben und fingen an zu bauen. Was dabei herauskam, war eine Mischung aus Höhle und Hütte, denn unser Refugio sollte möglichst unbemerkt bleiben. Es guckte auch nur einen Meter raus; der Rest war unterirdisch. Es wurde ein Prachtbau mit stabilen Wänden aus dicken Bohlen, innen mit sauber gehobelten Brettern verschalt, und er hatte einen richtigen Fußboden und zwei Fenster und ein wetterfestes Dach. Vier Holzpritschen kamen hinein und dazu die Strohsäcke. Sogar einen Ofen haben wir gebaut. Wurde ein tolles Nest, sag’ ich Ihnen! Aber das Material nach oben zu schleppen, das war …, also, das war halber Mord! Wir brauchten fast ein Jahr, bis alles fertig war.«
»Und die Schwedin?« fragte Federico.
»Ja, die Schwedin!« Umberto nahm einen kräftigen Schluck und schloß für einen kurzen Moment die Augen.
»Wir waren fünfzehn, sechzehn und siebzehn Jahre alt. Hilario war der Älteste, Carlos der Jüngste, und ich saß dazwischen. Sie wissen, das ist das Alter, in dem einem noch die Worte fehlen. Der Kopf ist zu blöd, als daß man den Frauen Komplimente machen könnte, aber der Bauch platzt fast vor Saft und Kraft. In dieser Phase befanden wir uns damals, und …«
»Die Schwedin!« mahnte Federico erneut. 
    »Ja, ja, natürlich! Also, manchmal kehrten wir, wenn wir auf den Berg wollten, vorher irgendwo ein, in Ensenada oder Petrohué, aßen noch was und kauften Proviant. Und einmal, wir hatten gerade Cola und Bier in unseren Rucksäcken verstaut und Hilario bezahlte aus der Gemeinschaftskasse, stand plötzlich eine Frau neben uns, blond und schlank und hübsch, Mitte bis Ende Zwanzig, damit eigentlich nicht unser Jahrgang, aber nur in der Weise, daß so eine für uns als unerreichbar galt.«
»Es war die Schwedin«, sagte Federico. »Ja, das war sie! Ich sag’ Ihnen, eine nordische Göttin!« Er hatte sein Glas
neu gefüllt, sprach auch schon etwas schwerfällig, ohne jedoch in seinem Erzähleifer zu erlahmen. »Sie hieß Inga und wollte auf den Berg, auf unseren Vulkan. Sie war allein, war mit ihrem alten VW aus Valdivia gekommen, weil Freunde ihr gesagt hatten, sie müsse vor der Rückkehr nach Europa unbedingt noch auf den Monte Osorno. Naja, da stand sie nun und wollte genau dahin, wohin wir auch wollten. Sie sprach ein gutes Spanisch. Ob wir sie nicht mitnehmen könnten, fragte sie, und natürlich ertranken wir sofort in dem unglaublichen Blau ihrer Augen. So wurden wir sozusagen ihre Bergführer, selbstverständlich ohne Bezahlung, denn von einer Göttin nimmt man kein Geld. Es ging los. Klar, daß wir neben unseren eigenen Sachen auch ihre schleppten. Eine solche Frau etwas tragen zu lassen, das, Señores, ist ein Verbrechen.« Es un crimen, sagte er wörtlich und mit soviel Nachdruck, als spräche er mindestens von schwerem Raub. »Es wurde die schönste und aufregendste OsornoBesteigung aller Zeiten. Wir gingen im Gänsemarsch, wobei wir manchmal die Positionen wechselten. Die Frau aber ließen wir nie ganz vorn oder ganz hinten gehen, das wäre unhöflich gewesen. Jeder von uns war also mehrmals an der Reihe, sie genau vor sich zu haben. Bergauf, darum leicht vorgebeugt. Señores, haben Sie so etwas je erlebt?
Ich sag’ Ihnen, wir schwebten nach oben. Sie trug enge Jeans mit aufgesetzten Taschen, und, glauben Sie mir, ich war vernarrt in jede einzelne Naht! Während der Rast tranken wir von ihrem Rotwein und rauchten von ihren Zigaretten, als ob wir Männer wären. So um fünf am Nachmittag kamen wir an.

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