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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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Begriff, die gewundene Spitze des zierlichen Geräts in die Buchse einzuführen, da bemerkte er, der Vater, das gefährliche Vorhaben. Er stürzte auf seinen Jungen zu, entriß ihm den Bohrer und schlug in der Erregung ein-, zweimal und ziemlich heftig auf den kleinen blassen Handrücken. Die Folge war ein furchtbares Geschrei. Aber dann geschah etwas Verblüffendes. Er hatte Tilmann losgelassen und dachte, er würde eiligst davonlaufen, in eine Ecke, unter den Tisch, aus dem Zimmer, irgendwohin, wo er in Sicherheit wäre. Und in der Tat, er setzte sich auch in Bewegung, suchte Schutz. Doch wo? Mit aller Kraft, derer der Kleine mächtig war, drängte er sich gegen den Vater, umklammerte dessen Beine, drückte das tränenüberströmte Gesicht gegen den Hosenstoff. Er hatte sich dorthin geflüchtet, woher die Schläge gekommen waren, und das konnte nur heißen. Was immer vom Vater kam, und sei es auch eine Bestrafung, er war und blieb der Hort, der Geborgenheit bedeutete.
Noch lange hatten die vier Erwachsenen über diesen anrührenden Vorfall gesprochen, und Rüdiger, der Freund, der Gastgeber, der Werkzeugkastenbesitzer, hatte den Schluß gezogen:
»Die väterliche Hand kann tun, was sie will, sie bleibt für das Kind immer auch die schützende Hand. Sein Vertrauen kennt keine Grenzen. Ich glaube sogar, instinktiv weiß Tilmann, daß es die Angst um ihn, also die Liebe gewesen ist, die da zugeschlagen hat.«
Aber der Sechzehnjährige? fragte Kämmerer sich nun. Das Vertrauen, natürlich, das wird er gehabt haben, als er vom Mähdrescher gefallen war und verletzt dalag. Er wird, weil er auf die schützende Hand nicht zulaufen konnte, darauf gewartet haben, daß sie zu ihm käme. Doch sie kam nicht, konnte nicht kommen, denn ich kriegte das alles ja nicht mit. Ich bin sicher, zu diesem Zeitpunkt hat er nicht an mir gezweifelt, sondern gedacht, Vater wird auch verletzt sein oder ist sogar tot. Aber später, in der Haft, mußte er sich den Film ansehen, dieses infame Dokument einer Feigheit, die es nie gab! Wie wurde er damit fertig? Ein Sechzehnjähriger ist kritisch, bildet sich ein Urteil, vertraut blind nur so lange, wie das Vertrauen nicht erschüttert wird.
Er malte sich aus, wie Tilmann, vermutlich flankiert von Kopjella und jenem Fehrkamp, in dem Vorführraum gesessen haben mochte. Es war dunkel ringsum und gespenstisch, und der Projektor warf die schrecklichen Bilder auf die Leinwand. Was wird der Junge gedacht und gefühlt haben? Zwei, nein, drei Hoffnungen hab’ ich, daß die beabsichtigte Wirkung ausblieb. Erstens. Er hat, weil er dem Pack grundsätzlich nicht traute, einfach die Augen zugemacht oder den Blick gesenkt. Aber das ist sehr unwahrscheinlich, denn dazu hatte die Abgeklärtheit eines reifen Menschen gehört. Zweitens. Er wußte, vielleicht durch andere Häftlinge, über die Abteilung Operative Technik Bescheid und hatte deshalb seine Zweifel an der Echtheit dessen, was man ihm vorführte. Zugegeben, auch diese Hoffnung ist nicht groß. Seine Mithäftlinge waren ja ebenfalls Jugendliche, und Burschen wie Georg Schöller werden ihm so etwas kaum gesteckt haben. Drittens. Er hat in den nachgestellten Bildern irgendeine Einzelheit ausmachen können, die in der Wirklichkeit anders gewesen war, eine Besonderheit des Mähdreschers zum Beispiel, den er, weil er an der Umrüstung mitgewirkt hatte, ja genau kannte. Immerhin war das Original im Westen verblieben, und also waren die Fälscher bei der Rekonstruktion auf Mutmaßungen angewiesen. Oder an meiner Kleidung stimmte etwas nicht. Bei seiner eigenen werden sie keine Fehler gemacht haben, die hatten sie ja in Händen. Aber meine nicht. Die Kapuze an meinem Anorak zum Beispiel. Vielleicht fehlte sie, und er hat das bemerkt.
Er rieb sich die Stirn, wußte nur zu gut, daß er auf keine der drei Möglichkeiten setzten durfte, und plötzlich hatte er eine ganz andere Vision. Der Film ist zu Ende, und sie bringen Tilmann zurück in die Zelle, wollen die Bilder auf ihn wirken lassen, vielleicht eine ganze Nacht lang, um dann am Morgen das Verhör fortzusetzen. Und er liegt also auf seiner Pritsche, kann natürlich nicht schlafen, ist aufgewühlt und unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, weil sein Vater weggerannt ist, Richtung Westen, und sich um das auf dem Acker liegende Bündel in seinem Rücken nicht gekümmert hat.
Mein Gott, wenn es so war, wie verlassen und wie verzweifelt muß der Junge gewesen sein!
Er stand auf, schloß die Terrassentür, zog

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