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1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

1994 Jagdzeit in Deutschland (SM)

Titel: 1994 Jagdzeit in Deutschland (SM) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hinrich Matthiesen
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und die Akte verschwunden ist, sondern …«
»Klar«, unterbrach er sie, »Sie meinen die Tatsache, daß er seine Aufzeichnungen hinterlegt hat mit der Verfügung, sie im Falle seines plötzlichen Todes der Polizei zu übergeben. So gehen in der Regel nur Menschen vor, die sich durch Mitwisser oder gar Komplizen gefährdet fühlen.«
Vom Flur her hörten sie Schritte.
»Mein Mann«, sagte Frau Dillinger und stand auf.

15
    Hubert Dillinger war so blond wie seine Frau und ebenso braungebrannt, hatte aber trotz seiner im ganzen gesehen nordischen Erscheinung braune Augen. Er wirkte besonnen und aufrichtig.
    Kämmerer hatte denn auch keine Bedenken mehr gehabt, über Tilmanns Tod zu sprechen und über den gefälschten Film, und die Betroffenheit, mehr noch, das Entsetzen seiner beiden Zuhörer war deutlich zu spüren gewesen.
    Dillinger schenkte Kaffee nach, und dann sagte er: »Ich hatte ein gespaltenes Verhältnis zu meinem Schwiegervater. Einerseits mochte ich ihn. Ich rede jetzt von früher, von der Zeit, als meine Frau und ich noch in
    Rostock lebten. Er war, was Sie überraschen mag, eigentlich ein warmherziger Mensch. Er half, wo es nötig war, sei es mit Geld, sei es mit Rat, sei es mit Taten, oft auch mit Trost, und zugleich war er der Stasi-Mann, der, wenn es sein mußte, über Leichen gehen konnte, wie man so sagt. Ja, auch Stasi-Leute sind Familienväter, haben Freunde, haben, wie soll ich sagen, weiche Stellen in der Seele. Ein bißchen erinnert mich das – entschuldige, Angelika, es ist nicht speziell auf ihn gemünzt, sondern generell gemeint – an die SS-Schergen, die bei klassischer Musik vor Ergriffenheit zerflossen. Mein Schwiegervater, um auf ihn zurückzukommen, zeigte Gott sei Dank am Ende seines Lebens Einsicht und Reue, aber offenbar gibt es Menschen, die Angst gehabt haben vor seiner Reue. Er hat mir mal was anvertraut, von dem«, er sah kurz seine Frau an, »nicht mal du etwas weißt. Zugegeben, er war ein bißchen gelöst vom Chablis, den er so gern mochte, aber ich glaube nicht, daß er damals nur so dahergeredet hat. Er sprach von einem RING, benutzte mehrmals diesen Begriff und meinte damit nicht etwa ein Schmuckstück, sondern einen Verein. Er sagte: ›Der RING fängt die Ehemaligen auf.‹ Aber dann sagte er auch: ›Ich will mich nicht auffangen lassen.‹ Das waren seine Worte, und er erklärte, es gebe die fatal bequeme Selbstentlastungsformel, Irren sei menschlich, und auf ihr werde immer dann herumgeritten, wenn Menschen sich vor ihrer Verantwortung drücken wollten. Er jedoch sei der Meinung, da spiele ja wohl die Qualität des Irrtums eine Rolle. Wichtig sei zum Beispiel, ob andere durch den Irrtum zu Schaden gekommen seien, und am sozialistischen Irrtum hatten viele leiden müssen oder seien sogar zugrunde gegangen. Ich finde, wer, wie Fehrkamp, sagt: ›Es tut mir leid, ich habe mich geirrt‹, geht wenigstens selbstkritisch vor. Wer sich aber hinter seinem Irrtum verschanzt, ist in Wirklichkeit überhaupt nicht einsichtig. An dem Irrtum eines Adolf Hitler und seiner Kumpane starben fünfzig Millionen Menschen. An dem unserer DDR-Bonzen und ihrer Mitverschworenen nur ein paar Hundert, und das nimmt ihm vielleicht die historische Dimension, aber es entlastet sie nicht. Horst Fehrkamp, glaube ich, ging es um die ehrliche Aufarbeitung seiner Vergangenheit, und wenn einem daran gelegen ist, bringt man sich doch nicht um!«
    Kämmerer stimmte ihm zu, und dann fragte er: »Hat er Näheres über diesen RING gesagt?«
»Leider nicht.«
»Was meinen Sie«, wandte Kämmerer sich an Frau Dillinger, »besteht die Möglichkeit, daß Ihr Vater eine Kopie seiner Aufzeichnungen besaß und sie an anderer Stelle aufbewahrt hat?«
    »Ich weiß es nicht«, war die Antwort. »Bei uns jedenfalls ist nichts. Er legte größten Wert darauf, die Familie aus allem herauszuhalten. Deswegen nahm er sich ja sogar eine eigene Wohnung, als er nach Hamburg zog. Hier bei uns war er nur ein paar Monate.«
    »Wo liegt seine Wohnung?«
»In einem der Hochhäuser am Grindelberg. Dabei haben wir ihm mehrfach angeboten, bei uns zu bleiben. Hätte er es doch getan! Vielleicht wäre er dann noch am Leben. Übrigens fällt mir ein, daß nicht nur die Aufzeichnungen fehlen. In seinem Schreibtisch verwahrte er die Briefe, die ich ihm in den letzten beiden Jahren geschrieben habe. Er hatte sie sogar mit einem gelben Seidenband verschnürt, und bestimmt waren auch unsere Feriengrüße von Amrum dabei. Der ganze Stapel

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