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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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erlahmt zu sein. Aomame war mittlerweile fünfundzwanzig Jahre alt und immer noch Jungfrau. Wenn sie angespannt war, masturbierte sie. Als besonders einsam empfand sie ihr Leben nicht. Es strengte Aomame an, tiefere persönliche Beziehungen zu unterhalten. So blieb sie lieber für sich.
    An einem stürmischen Abend im Herbst, drei Tage nach ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag, beging Tamaki Selbstmord. Sie erhängte sich in ihrem Haus. Ihr Mann fand sie, als er am Abend des folgenden Tages von einer Geschäftsreise zurückkam.
    »Wir hatten keine familiären Probleme. Sie hat auch nie gesagt, dass sie unglücklich sei. Ich kann mir keinen Grund für diesen Selbstmord vorstellen«, sagte ihr Mann der Polizei. Die Eltern bestätigten seine Aussage.
    Aber er hatte gelogen. Die sadistische Gewalt, die Tamakis Mann ständig an ihr verübte, hatte sie körperlich und seelisch durch und durch zermürbt. Sein Verhalten war immer extremer geworden. Auch seine Eltern wussten darüber Bescheid. Der Zustand von Tamakis Leiche erregte zwar den Verdacht der Polizei, aber zu einer Anklage kam es nie. Der Ehemann wurde einbestellt und befragt, aber die Todesursache war eben eindeutig Selbstmord, und er war zum Zeitpunkt ihres Todes auf Dienstreise auf Hokkaido gewesen. Er konnte nicht belangt werden. Tamakis Bruder hatte Aomame später im Vertrauen davon berichtet.
    Tamakis Mann war von Anfang an gewalttätig gewesen, und ihre Lage war mit der Zeit immer quälender und düsterer geworden. Doch sie vermochte diesem Albtraum nicht zu entfliehen. Zu Aomame hatte sie nicht ein einziges Wort davon gesagt. Denn schließlich kannte sie von vornherein die Antwort, die sie bekommen hätte. Du verlässt auf der Stelle dieses Haus, hätte Aomame bestimmt gesagt. Aber das konnte sie nicht . Kurz vor ihrem Selbstmord, ganz zuletzt noch, hatte Tamaki einen langen Brief an Aomame geschrieben. Der Tenor des Ganzen war, dass sie von Anfang an unrecht gehabt habe und Aomame im Recht gewesen sei. Sie schloss mit folgenden Worten:
    Mein tägliches Leben ist die Hölle. Aber ich kann dieser Hölle nicht entfliehen. Selbst wenn, ich wüsste gar nicht, wohin. Ich bin eine Gefangene dieser grausigen Hölle. Ich habe mich selbst hineinbefördert, mich eingeschlossen und den Schlüssel weit fort geworfen. Natürlich war diese Hochzeit ein Fehler. Genau wie du es gesagt hast. Aber das wahre Problem ist nicht einmal mein Mann, ich selbst bin es. Die vielen Schmerzen, die ich spüre, habe ich verdient. Ich kann niemandem dafür die Schuld geben. Du bist meine einzige Freundin, der einzige Mensch auf dieser Welt, dem ich vertrauen kann. Aber auch Du kannst mich nicht retten. Bitte versuch mich nicht zu vergessen. Wie schön wäre es gewesen, wenn wir beide einfach für immer zusammen Softball hätten spielen können.
    Als Aomame diesen Brief las, geriet sie in furchtbare Panik. Sie konnte nicht aufhören zu zittern. Immer wieder rief sie bei Tamaki an, aber es hob nie jemand ab. Nur eine Bandansage ertönte. Sie stieg in die Bahn und fuhr nach Okusawa im Bezirk Setagaya, wo Tamaki in einer großen Villa mit einem hohen Zaun wohnte. Sie klingelte am Tor, doch die Sprechanlage blieb stumm. Irgendwo im Haus bellte ein Hund. Aomame musste unverrichteter Dinge wieder gehen. Sie wusste es natürlich nicht, aber zu diesem Zeitpunkt war Tamaki bereits gestorben. Sie baumelte ganz allein an dem Seil, das sie am Treppengeländer befestigt hatte. Nur das Läuten des Telefons und die Türglocke hallten durch die Stille des Hauses.
    Aomame war daher nicht überrascht, als die Nachricht von Tamakis Tod sie erreichte. Im Grunde ihres Herzens hatte sie es bereits geahnt. Es wallte auch keine Trauer in ihr auf, und sie antwortete eher geschäftsmäßig. Sie legte auf, sank auf einen Stuhl, und nachdem ziemlich viel Zeit vergangen war, hatte sie das Gefühl, sämtliche Körperflüssigkeit sei aus ihr herausgelaufen. Lange stand sie nicht von ihrem Stuhl auf. Sie rief in ihrer Firma an, meldete sich für einige Tage krank und schloss sich in ihrer Wohnung ein. Sie aß nicht, sie schlief nicht, sie trank kaum einen Schluck Wasser. Sie ging auch nicht zu Tamakis Beerdigung. Es war, als sei etwas in ihr zerbrochen. Ein Bruch hatte stattgefunden, durch den sie ein anderer Mensch geworden war. Aomame hatte das starke Empfinden, eine Grenze überschritten zu haben. Ich werde nie mehr dieselbe sein wie früher, dachte sie.
    Aomame fasste den Entschluss, den Mann zu bestrafen. Sie musste

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