1Q84: Buch 1&2
Familie mich geschunden, bei jeder Kleinigkeit kriegte ich die Fäuste meines Vaters und meiner älteren Brüder zu spüren. Nie bekam ich genug zu essen und wurde nicht besser behandelt als ein Stück Vieh. Du brauchst dir gar nichts auf deine paar guten Noten einzubilden.« Immer und immer wieder spulte sein Vater die gleiche Tirade ab.
Irgendwann kam Tengo der Gedanke, dass sein Vater vielleicht neidisch auf ihn sein könnte. Möglicherweise war er eifersüchtig auf Tengos Wesen oder seine Situation. Aber konnte es denn sein, dass ein Vater seinen Sohn beneidete? Natürlich konnte Tengo so etwas Schwieriges nicht beurteilen. Er war ja noch ein Kind. Aber er spürte, dass Sprache und Verhalten seines Vaters eine Bösartigkeit ausstrahlten, die ihn abstieß. Nein, das war nicht nur Neid. Tengo spürte immer wieder, dass dieser Mann etwas an ihm hasste. Er hasste nicht den Menschen Tengo an sich. Sein Vater hasste etwas , das in ihm war. Etwas, das er nicht akzeptieren konnte.
Die Mathematik bot Tengo eine geeignete Zuflucht. Um dem qualvollen Gefängnis der Realität zu entkommen, rettete er sich in die Welt der Zahlen. Schon als kleiner Junge hatte er gelernt, dass er sich mühelos in diese Welt versetzen konnte, wenn er einen bestimmten Schalter in seinem Kopf umlegte. Er entdeckte ein grenzenloses Reich der Ordnung und fühlte sich frei, solange er sich darin bewegte. Er schritt durch die gewundenen Korridore eines riesigen Gebäudes und stieß eine nummerierte Schwingtür nach der anderen auf. Sooft sich eine neue Szenerie vor ihm auftat, wurden die hässlichen Spuren der realen Welt, die noch an ihm hafteten, schwächer und lösten sich bald ganz auf. Das Reich, in dem die Zahlen regierten, wurde für ihn ein erlaubtes und vor allem sicheres Versteck. Tengo begriff die Geographie dieser Welt besser als jeder andere und vermochte sich präzise darin zurechtzufinden. Niemand konnte ihm dorthin folgen. Solange er sich hier aufhielt, konnte er die Regeln und Beschwernisse, die ihn in der Wirklichkeit bedrückten, einfach vergessen.
Gegenüber dem prächtigen und luftigen Gebäude der Mathematik war die Welt, die sich Tengo in den Geschichten von Dickens präsentierte, wie ein tiefer Zauberwald. Im Gegensatz zur Mathematik, die sich endlos in den Himmel hinauf erstreckte, breitete sich dieser Wald stumm unter ihm aus. Seine dunklen, massigen Wurzeln verzweigten sich tief in der Erde. Dort gab es keine Landkarte und auch keine nummerierten Schwingtüren.
Von der Grundschule bis in die Mittelstufe absorbierte ihn die Mathematik ganz und gar. Ihre Klarheit und absolute Freiheit zogen ihn stärker in den Bann als alles andere. Sie war lebensnotwendig für ihn. Doch als er in die Pubertät kam, wuchs in ihm allmählich das Bewusstsein, dass die Mathematik allein ihm nicht genügte. Solange er sich in ihrem Reich aufhielt, hatte er keine Probleme. Alles lief nach Wunsch. Nichts versperrte ihm den Weg. Aber sobald er ihr Reich verließ und in die Realität zurückkehrte (was sich nicht vermeiden ließ), fand er sich im gleichen elenden Gefängnis wieder wie zuvor. Seine Situation hatte sich nicht im Geringsten verbessert. Im Gegenteil, seine Fesseln erschienen ihm umso schwerer. Was nützte ihm also die Mathematik, wenn das so war? War sie nicht nur eine vorübergehende Zuflucht? Verschlechterte sie seine tatsächliche Lage nicht sogar noch?
Angesichts dieser drängenden Fragen beschloss Tengo, einen bewussten Abstand zwischen sich und die Mathematik zu bringen. So kam es, dass die Faszination, die der Wald der Geschichten auf ihn ausübte, immer stärker wurde. Natürlich war die Lektüre von Romanen auch eine Flucht. Sobald er das Buch zuklappte, war er ebenso gezwungen, wieder in die reale Welt zurückzukehren. Aber bei der Rückkehr aus der Welt eines Romans, so erkannte Tengo eines Tages, war das Gefühl der Frustration weniger drastisch als jenes, das er bei der Rückkehr aus dem Reich der Mathematik verspürte. Woran das nur lag? Gründliches Nachdenken brachte ihn bald zu einem Schluss. Der Wald der Geschichten bot, auch wenn Zusammenhänge geklärt wurden, kaum klare Antworten. Ganz anders als in der Mathematik. Vereinfacht ausgedrückt war es die Aufgabe einer Geschichte, eine bestimmte Problematik in eine andere Form umzuwandeln. Durch die Merkmale und die Richtung dieser Wandlung deutete sich auf der erzählenden Ebene eine Antwort an. Und mit dieser Andeutung in der Hand kehrte Tengo in die Realität
Weitere Kostenlose Bücher