1Q84: Buch 1&2
Tengos ruhigen, großmütigen Zügen waren die seines Vaters nervös und kleinlich. Die meisten Leute sagten, sie sähen nicht aus wie Vater und Sohn.
Aber die Fremdheit, die Tengo gegenüber seinem Vater verspürte, hatte weniger mit ihrer Physiognomie zu tun als mit ihren geistigen Eigenschaften und Neigungen. Sein Vater machte weiß Gott keinen intellektuellen Eindruck. Selbstverständlich hatte er keine ausreichende Schulbildung genossen und als Kind armer Leute nie gelernt, selbstständig zu denken. Tengo fand diese Lebensumstände auch sehr bedauerlich. Dennoch fragte er sich, ob der Wunsch nach Wissen nicht bei mehr oder weniger allen Menschen ein natürliches Grundbedürfnis und bei diesem Mann nur nicht besonders ausgeprägt war.
Er verfügte über alle praktischen Fähigkeiten, die man zum Leben braucht, aber nichts an seiner Haltung wies auf das Bemühen hin, an sich zu arbeiten, oder auf den Drang, die Welt einmal aus einer breiteren Perspektive zu betrachten.
Obwohl sein Vater ganz und gar in seiner armseligen, von kleinlichen Regeln beherrschten Welt lebte, schien er deren erstickende Enge nicht wahrzunehmen. Tengo hatte nie gesehen, dass sein Vater ein Buch zur Hand nahm. Er las nicht einmal Zeitung (es reiche völlig aus, sich regelmäßig die Nachrichten bei NHK anzuschauen, erklärte er). Er interessierte sich weder für Musik noch für Filme. Nie unternahm er einen Ausflug oder eine Reise. Das Einzige, was ihn in eine gewisse Begeisterung versetzen konnte, war die Route durch sein Zuständigkeitsgebiet. Er hatte eine Karte der Viertel angefertigt, in denen er die Gebühren einsammelte, und sie mit verschiedenfarbigen Stiften markiert. In seiner Freizeit brütete er über dieser Karte wie ein Biologe, der Chromosomen sortiert.
Tengo hingegen galt schon früh als kleines Mathematikgenie. Er hatte hervorragende Noten in Arithmetik und konnte bereits in der dritten Klasse Aufgaben für Oberschüler lösen. Auch in den anderen Naturwissenschaften fielen ihm die besten Noten mühelos zu. In seiner Freizeit las er unentwegt. Sein Wissensdurst war unersättlich, und er schaufelte weitverzweigte Kenntnisse in sich hinein wie ein Schaufelbagger Erde. Wenn er seinen Vater ansah, konnte er nicht begreifen, dass die Gene eines so engstirnigen und unkultivierten Mannes biologisch zumindest eine Hälfte seiner Existenz ausmachten.
Schon in seiner Kindheit war Tengo zu dem Schluss gelangt, sein richtiger Vater müsse sich anderswo aufhalten. Gewiss war er in Wahrheit nur durch bestimmte Umstände bei diesem Mann aufgewachsen, den er zwar Vater nannte, mit dem er aber nicht blutsverwandt war. Wie die unglückseligen Kinder in den Romanen von Dickens.
Diese Möglichkeit war für den Jungen Hoffnung und Albtraum zugleich. Gierig und begeistert verschlang er alle Romane von Dickens, die er in der Stadtbücherei bekommen konnte, beginnend mit Oliver Twist . Auf seinen Reisen durch die Welt dieser Geschichten gab Tengo sich zugleich den verschiedensten Phantasien über seine eigene Herkunft hin. Diese Vorstellungen (oder Wünsche) entwickelten sich in seinem Kopf rasch zu langen und komplexen Abenteuern. Sie folgten stets einem bestimmten Muster, das er in zahllosen Variationen durchspielte. Doch jede davon sagte Tengo, dass er sich nicht am richtigen Platz befand. »Man hat mich irrtümlich in einen falschen Käfig gesperrt. Bestimmt werden meine wahren Eltern mich eines Tages durch eine glückliche Fügung finden, und ich werde aus diesem engen hässlichen Gefängnis erlöst und kann dorthin zurückkehren, wo ich eigentlich hingehöre. Und meine Sonntage werden schön, friedlich und frei sein.«
Sein Vater war froh, dass Tengo so ausgezeichnete Noten nach Hause brachte. Er war sogar stolz darauf und prahlte damit in der Nachbarschaft. Zugleich jedoch empfand er die hohe Intelligenz und die Begabung seines Sohnes tief in seinem Inneren als unangenehm. Immer wieder störte er Tengo, wenn dieser an seinem Schreibtisch saß und lernte, und er tat es ganz offensichtlich mit Absicht. Er gab ihm Arbeiten im Haushalt, regte sich künstlich über irgendetwas Fadenscheiniges auf, das ihm nicht passte, und hackte dann hartnäckig auf Tengo herum. Der Inhalt seiner Vorwürfe war stets der gleiche. »Als Gebührenkassierer muss ich mir jeden Tag die Füße plattlaufen, mich dauernd beleidigen lassen und schuften wie verrückt. Im Vergleich zu mir führst du ein bequemes Faulenzerleben. Als ich in deinem Alter war, hat meine
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