1Q84: Buch 1&2
zurück. Sie war wie ein Stückchen Papier, auf dem ein unverständlicher Zauberspruch stand. Oft fehlte ihm der inhaltliche Zusammenhang, und es ergab sich nicht sofort ein praktischer Nutzen. Aber er enthielt ein Potential, und eines Tages würde er den magischen Spruch vielleicht verstehen. Diese Möglichkeit erwärmte sein Herz.
Mit zunehmendem Alter interessierte sich Tengo immer mehr für das Wesen dieser narrativen Hinweise. Auch die Mathematik bereitete ihm als Erwachsenem noch immer große Freude. Bei seinem Unterricht an der Yobiko ergriff ihn häufig spontan die gleiche Begeisterung, die er schon als Kind empfunden hatte, und es war ihm ein Bedürfnis, dieses Hochgefühl geistiger Freiheit mit anderen zu teilen. Es war eine großartige Sache. Indessen vermochte Tengo nicht mehr vorbehaltlos und zur Gänze in das von Zahlen beherrschte Reich einzutauchen. Denn er hatte erkannt, dass er die Antworten, die er wirklich brauchte, dort nicht finden würde, und wenn er noch so weit in dieses Reich vorstieß.
Als Tengo in der fünften Klasse war, verkündete er seinem Vater seinen Entschluss. »Ich will nicht mehr jeden Sonntag mit dir die Gebühren für NHK einsammeln. In dieser Zeit möchte ich lernen, Bücher lesen oder etwas unternehmen. Genau wie du deine Arbeit hast, habe auch ich etwas zu tun. Ich will ein normales Leben führen wie alle anderen auch.«
Mehr sagte Tengo nicht. Er hatte seinen Standpunkt kurz, aber schlüssig dargestellt.
Sein Vater wurde natürlich sehr böse. Es sei ihm egal, was andere täten. »Bei uns bestimme ich«, sagte der Vater. »Normales Leben – was soll das? Red nicht so geschwollen daher. Was weißt du schon vom normalen Leben?« Tengo widersprach nicht. Er schwieg nur. Er wusste von vornherein, dass es zu nichts führen würde, ganz gleich, was er sagte. »Wie du willst«, sagte der Vater. »Aber wer seinen Eltern nicht gehorcht, kriegt auch nichts mehr zu essen. Mach, dass du wegkommst.«
Also packte Tengo seine Sachen und verließ sein Zuhause. Sein Entschluss hatte von Anfang an festgestanden, und auch wenn sein Vater tobte, ihn anschrie, vielleicht sogar die Hand gegen ihn erhob (was er nicht tat), er hatte keine Angst. Vielmehr war er erleichtert, sein Gefängnis verlassen zu dürfen.
Doch wie sollte ein zehnjähriges Kind für sich selbst sorgen? Es blieb Tengo nichts anderes übrig, als nach der Schule die Vertrauenslehrerin aufzusuchen und ihr alles zu erzählen. Er erklärte ihr, dass er keinen Platz mehr zum Schlafen habe und welche Belastung es für ihn sei, jeden Sonntag mit seinem Vater die Rundfunkgebühren kassieren zu gehen. Die Vertrauenslehrerin war Mitte dreißig, unverheiratet und mit ihrer unschönen dicken Brille nicht gerade als hübsch zu bezeichnen. Aber sie hatte einen aufrechten und warmherzigen Charakter. Die zierliche Frau sprach für gewöhnlich nicht viel und machte einen sehr milden Eindruck. Ungeachtet dessen war sie jähzornig. Wenn sie sich ärgerte, war sie plötzlich eine ganz andere, und niemand konnte sie aufhalten. Die meisten Leute reagierten sprachlos auf diese Veränderung. Doch Tengo mochte diese Lehrerin sehr gern. Er empfand sie nie als besonders furchterregend, auch nicht, wenn sie wütend war.
Sie hörte sich Tengos Geschichte an. Sie verstand ihn und gab ihm recht. Sie machte ihm ein Bett auf dem Sofa in ihrem Wohnzimmer, und er durfte bei ihr übernachten. Frühstück machte sie ihm auch. Am nächsten Abend begleitete sie Tengo nach Hause und führte ein langes Gespräch mit seinem Vater. Tengo musste vor der Tür warten und wusste nicht, was dabei herauskommen würde. Doch am Ende musste sein Vater die Waffen strecken. Auch wenn er sich noch so ärgere, dürfe er ein zehnjähriges Kind nicht allein durch die Straßen irren lassen, erklärte ihm die Lehrerin. Schließlich hätten Eltern eine gesetzliche Fürsorgepflicht für ihre Kinder.
Das Ergebnis des Gesprächs war, dass Tengo seine Sonntage von nun an verbringen durfte, wie er wollte. Vormittags musste er im Haushalt helfen, aber danach durfte er auf eigene Faust etwas unternehmen. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte Tengo seinem Vater ein Zugeständnis abgerungen. Der Vater war so böse auf ihn, dass er lange nicht mit ihm sprach, was für Tengo jedoch keinen Verlust bedeutete. Er hatte etwas weit Wichtigeres gewonnen: einen ersten Schritt in Richtung Freiheit und Unabhängigkeit.
Nach der Grundschule verlor er seine Vertrauenslehrerin für längere Zeit aus
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