1Q84: Buch 1&2
den Augen. Hätte er an den Klassentreffen teilgenommen, die hin und wieder stattfanden, wäre er ihr sicher begegnet, aber Tengo verzichtete darauf. Er hatte kaum glückliche Erinnerungen an diese Zeit. Dennoch dachte er manchmal an seine Lehrerin. Immerhin hatte sie, abgesehen davon, dass er bei ihr hatte übernachten dürfen, seinen maßlos sturen Vater überzeugt. Das würde er ihr nicht so leicht vergessen.
Er war in der elften Klasse, als er sie wiedersah. Tengo gehörte damals zur Judo-Mannschaft seiner Schule, konnte aber wegen einer Verletzung an der Wade zwei Monate lang an keinem Wettkampf teilnehmen. Stattdessen rekrutierte man ihn als Paukisten für die Blaskapelle der Schule. Ein Wettbewerb stand vor der Tür, aber von den beiden Paukisten hatte einer unvermutet die Schule gewechselt, während der andere eine schwere Grippe bekam. In dieser Zwangslage hätte die Kapelle jeden genommen, der nur zwei Stöcke halten konnte. Der durch seine Verletzung zum Nichtstun verurteilte Tengo erregte die Aufmerksamkeit des Musiklehrers und wurde für das Orchester verpflichtet. Dafür versprach man ihm, bei seiner Abschlussarbeit ein Auge zuzudrücken, und ein gutes Essen.
Tengo hatte bis dahin noch nie Pauke gespielt und auch gar kein Interesse an diesem Instrument, aber als er es ausprobierte, passte es erstaunlich gut zum Wesen seines Intellekts. Es bereitete ihm eine natürliche Freude, die Zeit in Intervalle einzuteilen und Fragmente zu einer gültigen Tonfolge zusammenzusetzen. Er sah sämtliche Töne als Schema im Geiste vor sich. Wie ein Schwamm Wasser aufsaugt, begriff Tengo die verschiedenen Schlagzeugsysteme. Auf Empfehlung des Musiklehrers erhielt er von einem Paukisten, der bei einem Symphonieorchester beschäftigt war, eine Einführung. Während der mehrstündigen Unterweisung lernte Tengo, wie das Instrument aufgebaut war und wie man es handhabte. Da die Noten Ähnlichkeit mit Zahlen hatten, fiel es ihm nicht schwer, sich zu merken, wie sie zu lesen waren.
Für den Musiklehrer war die Entdeckung seines musikalischen Talents eine freudige Überraschung. »Offenbar hast du ein angeborenes Gefühl für Rhythmus. Dein akustisches Empfinden ist ebenfalls ausgezeichnet. Wenn du weiter fleißig übst, könntest du es sogar zum Berufsmusiker bringen«, sagte er.
Die Pauke war ein schwieriges Instrument. Sie verfügte über eine besondere Tiefe und Überzeugungskraft und barg unendlich viele Möglichkeiten, Töne zu kombinieren. Damals übte das Orchester mehrere Sätze aus der Sinfonietta von Janáček, die für Bläser arrangiert waren. Sie sollten beim Wettbewerb der Jugendblasorchester in der »freien Auswahl« aufgeführt werden. Die Sinfonietta war für Schüler ein schweres Stück. Im Fanfarenteil spielten die Pauken eine entscheidende Rolle. Der Musiklehrer, der das Orchester leitete, hatte bei der Auswahl des Stückes den Einsatz seiner beiden guten Paukisten mit einkalkuliert. Aber da aus den zuvor genannten Gründen plötzlich beide ausfielen, saß er in der Klemme. Dementsprechend wichtig war nun die Rolle, die der eingesprungene Tengo zu erfüllen hatte. Doch das bedrückte diesen wenig, und seine Darbietung bereitete ihm außerordentliches Vergnügen.
Als der Wettbewerb geendet hatte (alles war problemlos gelaufen, sie hatten ihn nicht gewonnen, aber einen der oberen Plätze erreicht), trat Tengos frühere Vertrauenslehrerin an ihn heran und lobte seinen Auftritt.
»Ich habe dich auf den ersten Blick erkannt«, sagte die kleine Lehrerin (Tengo konnte sich nicht an ihren Namen erinnern). »Du bist ja ein ausgezeichneter Paukist, ich musste immer wieder zu dir hinsehen. Du bist zwar sehr groß geworden, aber ich habe dich gleich erkannt. Wann hast du denn angefangen zu musizieren?«
Tengo erzählte ihr kurz, wie es dazu gekommen war. »Du hast wirklich viele Talente«, sagte sie beeindruckt.
»Mir macht die Musik fast mehr Spaß als Judo.« Tengo lachte.
»Wie geht es übrigens deinem Vater?«, fragte sie.
»Danke, ganz gut«, erwiderte Tengo, aber das war nur so dahingesagt, denn eigentlich wusste er nicht, ob es seinem Vater gut ging oder nicht. Es war keine Frage, über die er besonders gern nachdachte. Mittlerweile war er von zu Hause ausgezogen und lebte in einem Wohnheim. Er hatte schon länger nicht mehr mit seinem Vater gesprochen.
»Warum sind Sie denn hier?«, fragte er die kleine Lehrerin.
»Meine Nichte spielt Klarinette im Blasorchester einer anderen Schule. Sie hat ein Solo
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