1Q84: Buch 1&2
Aomame den Anblick angesammelter Habseligkeiten nur schwer ertragen. Sooft sie in ein Geschäft ging, um etwas zu kaufen, verspürte sie ein Gefühl von Schuld. Brauchst du das wirklich?, fragte sie sich dann. Der Anblick hübscher Kleider oder Schuhe in ihrem Schrank schnürte ihr die Luft ab. Schönheit und Großzügigkeit erinnerten Aomame paradoxerweise an ihre armselige, unfreie Kindheit, in der sie nie etwas für sich bekommen hatte.
Häufig fragte sie sich, was es eigentlich bedeutete, frei zu sein. War es nicht so, dass man, kaum war man dem einen Gefängnis glücklich entronnen, nur wieder in ein anderes, noch schlimmeres geriet?
Nachdem sie einen bestimmten Mann ins Jenseits befördert hatte, bekam sie von der alten Dame in Azabu eine Art Belohnung. Dabei handelte es sich um ein fest in Papier eingewickeltes Bündel Geldscheine, auf dem weder Name und Adresse des Absenders noch des Adressaten vermerkt waren. Es war in einem privaten Postfach deponiert. Aomame erhielt von Tamaru den Schlüssel, nahm das Päckchen heraus und gab den Schlüssel anschließend zurück. Das versiegelte Päckchen warf sie ungeöffnet in ein Bankschließfach. Zwei backsteinharte Päckchen lagen bereits darin.
Aomame verbrauchte nicht einmal ihr monatliches Gehalt. Sie sparte sogar noch etwas davon. Somit benötigte sie dieses Geld überhaupt nicht, was sie der alten Dame auch gesagt hatte, als sie beim letzten Mal ihre Belohnung erhielt.
»Das geschieht doch nur der Form halber«, hatte die alte Dame sie mit leiser, sanfter Stimme ermahnt. »Sehen Sie es bitte als eine Verfahrensweise. Sie müssen es vorläufig einmal annehmen. Wenn Sie das Geld nicht benötigen, brauchen Sie es ja nicht zu verwenden. Und sollte es Ihnen gänzlich zuwider sein, spenden Sie es einfach anonym einer wohltätigen Organisation. Sie können völlig frei darüber verfügen. Allerdings würde ich Ihnen raten, es eine Weile nicht aus der Hand zu geben und lieber irgendwo zu deponieren.«
»Aber für so etwas möchte ich nicht bezahlt werden«, sagte Aomame.
»Das kann ich sehr gut verstehen. Aber dadurch, dass Sie diese nutzlosen Subjekte so sauber entfernt haben, kommt es auch nicht zu zermürbenden Scheidungsprozessen und Streitigkeiten um das Sorgerecht. Und die Frauen brauchen nicht in der Angst zu leben, dass ihre Männer wieder auftauchen und ihnen das Gesicht zu Brei schlagen. Sie bekommen Lebensversicherungen und Hinterbliebenenrenten ausbezahlt. Sehen Sie das Geld, das man Ihnen gibt, als eine Form des Dankes . Denn Sie, Aomame, tun das Richtige. Und das sollte nicht unbelohnt bleiben. Verstehen Sie auch, warum?«
»Nein«, sagte Aomame rundheraus.
»Weil Sie weder ein Engel noch Gott sind. Ich weiß genau, dass Sie das, was Sie tun, uneigennützig und reinen Herzens tun. Deshalb verstehe ich auch Ihre Bedenken, Geld dafür anzunehmen. Aber ein makellos reines Gewissen birgt auch Gefahren. Es ist nicht normal für einen Menschen, in einem Gefühl wie diesem zu leben. Deshalb müssen Sie es fest am Boden verankern wie einen Luftballon. Und dazu dient das Geld. Auch wenn etwas richtig ist, wenn man reinen Herzens das Richtige tut, heißt das noch lange nicht, dass man es darf. Verstehen Sie mich?«
Nachdem Aomame kurz nachgedacht hatte, nickte sie. »Nicht genau. Aber vorläufig werde ich tun, was Sie sagen.«
Die alte Dame lächelte. Und nahm einen Schluck Kräutertee. »Sie dürfen es auf keinen Fall am Schalter einer Bank einzahlen oder so etwas. Das Finanzamt darf nicht darauf aufmerksam werden. Werfen Sie die Scheine einfach in ein Bankschließfach. Eines Tages werden sie Ihnen vielleicht gute Dienste leisten.«
»So mache ich es«, sagte Aomame.
Aomame war gerade vom Sportstudio nach Hause gekommen und machte sich etwas zum Abendessen, als das Telefon klingelte.
»Hallo, Aomame«, sagte eine etwas heisere Frauenstimme. Es war Ayumi.
Den Hörer am Ohr, streckte Aomame einen Arm aus und drehte das Gas klein. »Hallo, wie geht’s? Alles klar bei der Polizei?«
»Heute habe ich in einer Tour Strafzettel für falsches Parken ausgefüllt. Ich hasse alle Menschen. Kein Mann in Sicht, nur schuften und nichts zu lachen.«
»Sehr tapfer.«
»Was machst du gerade?«
»Abendessen.«
»Hättest du übermorgen Zeit? So gegen Abend?«
»Ja, aber zu so etwas wie letztes Mal habe ich keine Lust. Damit mache ich lieber erst mal Pause.«
»Mir reicht es auch für eine Weile. Aber ich würde dich gern sehen.«
Aomame überlegte einen Moment.
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