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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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niemanden, der abartige Sachen machte.«
    »Das ist natürlich gut«, sagte Ayumi. »Freut mich zu hören.«
    »War es bei dir nicht so?«
    Ayumi zögerte kurz und zuckte dann mit den Schultern. »Ehrlich gesagt: Ich bin immer wieder missbraucht worden. Als Kind.«
    »Von wem?«
    »Von meinem älteren Bruder und meinem Onkel.«
    Aomame verzog entsetzt das Gesicht. »Von Verwandten?«
    »Genau. Beide sind bei der Polizei. Mein Onkel wurde sogar kürzlich öffentlich ausgezeichnet. Für das, was er in seinen dreißig Dienstjahren für die Sicherheit der Bürger getan hat. Er hat eine dämliche Hündin mit ihren Jungen gerettet, die sich an einem Eisenbahnübergang verirrt hatte. Es stand sogar in der Zeitung.«
    »Was haben sie mit dir gemacht?«
    »Sie haben mich da unten angefasst und mich ihren Schwanz streicheln lassen.«
    Die Falten in Aomames Gesicht vertieften sich noch mehr. »Dein Bruder und dein Onkel?«
    »Natürlich jeder für sich. Ich war zehn und mein Bruder ungefähr fünfzehn. Mein Onkel hat es viel früher gemacht. Zwei oder drei Mal, als er bei uns übernachtet hat.«
    »Hast du es jemandem gesagt?«
    Ayumi schüttelte mehrmals langsam den Kopf. »Nein, sie haben mir gedroht, mir würde etwas Schreckliches passieren, wenn ich es verrate. Außerdem hatte ich sowieso das Gefühl, selbst wie die Schuldige zu wirken, wenn ich etwas sage. Davor hatte ich große Angst und habe den Mund gehalten.«
    »Deiner Mutter hast du es auch nicht gesagt?«
    » Besonders nicht meiner Mutter«, sagte Ayumi. »Meine Mutter hat von jeher meinen Bruder vorgezogen und war immer enttäuscht von mir. Weil ich schlechte Manieren hatte, nicht hübsch, zu dick und nicht gut in der Schule war. Meine Mutter wünschte sich eine ganz andere Tochter. Ein hübsches schlankes Mädchen, eine Puppe, die zum Ballett geht. Aber diesen Ansprüchen konnte ich nie gerecht werden.«
    »Und deshalb wolltest du deine Mutter nicht noch mehr enttäuschen.«
    »Ja, vielleicht. Wenn ich ihr gesagt hätte, was mein Bruder mit mir macht, hätte sie mich noch mehr abgelehnt und zurückgestoßen. Bestimmt hätte sie gesagt, dass ich selbst die Ursache des Übels sei. Statt meinem Bruder die Schuld zu geben.«
    Aomame strich sich mit beiden Händen die Falten aus dem Gesicht. Nachdem sie mit zehn Jahren verkündet hatte, dem Glauben zu entsagen, hatte ihre Mutter kein Wort mehr mit ihr gesprochen. Im äußersten Notfall schrieb sie etwas auf einen Zettel und gab ihn ihr. Aber sie sprach nie mehr mit ihr. Aomame war nicht mehr ihre Tochter. Nur noch jemand, »der vom Glauben abgefallen war«. Dann war sie ausgezogen.
    »Aber es kam nicht zur Penetration?«, fragte Aomame.
    »Nein«, sagte Ayumi. »Solche Schmerzen konnten sie mir nicht zufügen. So weit sind sie dann doch nicht gegangen.«
    »Siehst du deinen Bruder und deinen Onkel jetzt noch manchmal?«
    »Als ich die Stelle hatte, bin ich ausgezogen. Inzwischen sehe ich sie kaum noch. Wir sind verwandt und arbeiten im gleichen Beruf, da lässt sich eine Begegnung natürlich nicht immer vermeiden. Dann wird halt gelächelt. Ich will auch nicht, dass es zu einer Szene kommt. Bestimmt haben sie längst vergessen, was damals passiert ist.«
    »Vergessen?«
    » Die , weißt du, die können vergessen«, sagte Ayumi. »Aber ich kann es nicht.«
    »Natürlich nicht«, sagte Aomame.
    »Das ist wie bei einem Genozid.«
    »Genozid?«
    »Die, die ihn verübt haben, können ihre Tat rationalisieren, indem sie die passenden Theorien aufstellen, und dann vergessen. Sie können die Augen von dem abwenden, was sie nicht sehen wollen. Aber die, denen es angetan wurde, die können nicht vergessen. Und nicht die Augen abwenden. Die Erinnerung wird von den Eltern an die Kinder weitervererbt. Weißt du, Aomame, was die Welt ausmacht, ist der endlose Krieg zwischen einer Erinnerung und der, die ihr entgegensteht.«
    »Das stimmt«, sagte Aomame. Sie runzelte leicht die Stirn. »Ein endloser Krieg zwischen einer Erinnerung und der Erinnerung, die ihr entgegensteht?«
    »Ehrlich gesagt, Aomame, dachte ich, dass du ähnliche Erfahrungen gemacht hast.«
    »Wie kamst du darauf?«
    »Ich kann es nicht genau erklären, aber irgendwie. Vielleicht kann ein Mädchen, dem so etwas passiert ist, es in seinem Leben nur noch hin und wieder eine Nacht mit einem fremden Mann treiben . Und bei dir sah es so aus, als stünde Wut dahinter. Es scheint, als könntest du dir nicht wie eine ganz normale Frau einen Freund zulegen, dich mit ihm

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