1Q84: Buch 1&2
Eigenschaften der Verpackung. Nicht umgekehrt.«
Aomame dachte darüber nach. Dann sagte sie: »Inhaltlich sind die Vorreiter als Sekte undurchsichtig, aber dessen ungeachtet fühlen sich Menschen von ihnen angezogen. So?«
Ayumi nickte. »Zu behaupten, es seien erstaunlich viele, wäre vielleicht übertrieben, aber es ist keine geringe Zahl. Allein dadurch sammelt sich Geld an. Das ist ganz natürlich. Dass so viele von dieser Sekte angezogen werden, hat in erster Linie keine religiösen Gründe, würde ich sagen. Alles wirkt sehr sauber, intelligent und systematisch. Kurz gesagt, nicht armselig. So etwas lockt junge Akademiker an. Es reizt ihre intellektuelle Neugier. Dort herrscht eine Vorstellung von Leistung, die ihnen die reale Welt nicht vermittelt. Greifbare, spürbare Leistung. Diese intellektuelle Anhängerschaft gleicht einer Gruppe befehlshabender Offiziere in einer Elitetruppe und bildet das Gehirn der Sekte.
Außerdem scheint ihr Anführer, sie nennen ihn ›Leader‹, über jede Menge Charisma zu verfügen. Sie verehren diesen Mann zutiefst. Seine Existenz fungiert offenbar als Kern ihrer Lehre, er ist so etwas wie der Born ihrer Religion. Es ist mehr oder weniger wie am Anfang des Christentums. Aber der Kerl zeigt sich nie in der Öffentlichkeit. Man weiß nicht, wie er aussieht. Auch sein Name und sein Alter sind unbekannt. Die Gruppe wird im Prinzip parlamentarisch verwaltet, und die Position des Vorsitzenden wird von einer anderen Person eingenommen, die sich bei offiziellen Ereignissen als Repräsentant der Gruppe zeigt, aber er ist nur eine Marionette. Im Zentrum des Systems scheint dieser unidentifizierbare ›Leader‹ zu stehen.«
»Diesem Mann scheint viel daran gelegen zu sein, seine Identität geheim zu halten, nicht wahr?«
»Entweder hat er etwas zu verbergen, oder es ist seine Absicht, ein Mysterium zu kreieren, indem er sich nicht zeigt.«
»Vielleicht ist er auch extrem hässlich?«
»Könnte sein. Vielleicht ist er ein groteskes außerirdisches Ungeheuer«, sagte Ayumi und knurrte wie ein Monster. »Aber abgesehen von ihrem Oberhaupt gibt es in dieser Sekte zu viel, was nicht nach außen gelangt. Da sind einmal diese ausgedehnten Immobilienkäufe, über die wir letztes Mal am Telefon gesprochen haben. Alles, was an die Öffentlichkeit kommt, ist Show . Eine gepflegte Anlage, gutaussehende PR-Leute, eine intelligente Theorie, Elite-Mitglieder, stoische Askese, Yoga und Entspannung, Ablehnung von schnödem Materialismus, ökologische Landwirtschaft, reine Luft und gesunde vegetarische Kost … Wenn das kein ausgefeiltes Image ist. Genau wie die Prospekte von Luxusresorts, die immer der Sonntagszeitung beiliegen. Die Verpackung ist wunderschön und verlockend, aber man hat immer den Eindruck, dass es eine Kehrseite gibt, mit der etwas nicht stimmt. Die in diesem Fall sogar illegal ist. Das ist zumindest mein erster Eindruck, nachdem ich mir alles mögliche Material angeschaut habe.«
»Aber die Polizei unternimmt im Augenblick nichts.«
»Vielleicht sind ja verdeckte Ermittlungen im Gang, aber so weit bin ich nicht vorgedrungen. Jedenfalls sieht es so aus, als würde die Präfekturpolizei von Yamanashi die Aktivitäten der Vorreiter beobachten. Irgendwie habe ich das auch aus dem Ton des Beamten herausgehört, mit dem ich telefoniert habe. Immerhin sind die Vorreiter, da kann man sagen, was man will, der Ursprung der Akebono-Gruppe, die die bewusste Schießerei ausgelöst hat. Bisher vermutet man nur, dass die chinesischen Kalaschnikows über Nordkorea ins Land gekommen sind, aber restlos aufgeklärt wurde das nie. Auch die Vorreiter sind wahrscheinlich im Visier. Aber da sie eine anerkannte Religionsgemeinschaft sind, kommt man nicht so leicht an sie heran. Vor allem weil sich ja bei den Ermittlungen herausgestellt hat, dass sie zumindest nicht direkt etwas mit der Schießerei zu tun hatten. Ob der Verfassungsschutz an ihnen dran ist, weiß ich nicht. Diese Leute halten alles geheim, und die Beziehungen zwischen Polizei und Geheimdienst sind traditionell nicht gerade freundschaftlich.«
»Über die Kinder, die nicht mehr in die Schule gekommen sind, hast du wohl nichts weiter herausgefunden?«
»Nein, keine Ahnung. Wenn sie einmal nicht mehr in die Schule kommen, bleiben sie offenbar innerhalb der Umzäunung. Über diese Kinder habe ich nichts erfahren. Gäbe es konkrete Fälle von Kindesmisshandlung, wäre es etwas anderes, aber da ist bisher nichts bekannt
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