1Q84: Buch 1&2
verabreden, essen gehen und ganz normal mit ihm schlafen. In meinem Fall ist das so.«
»Du meinst, weil du in der Kindheit missbraucht wurdest, kannst du diese normalen Erfahrungen nicht mehr machen?«
»Dieses Gefühl habe ich wirklich«, sagte Ayumi und zuckte leicht die Schultern. »Ich habe Angst vor Männern. Das heißt, ich habe Angst, mich tiefer auf jemanden einzulassen. Ihn ganz und gar anzunehmen. Ich brauche nur daran zu denken, und alles verkrampft sich in mir. Aber allein zu sein ist manchmal auch schwer. Manchmal sehne ich mich nach den Armen eines Mannes, ich möchte, dass er in mich eindringt. So sehr, dass ich es kaum aushalten kann. Dann versuche ich mein Glück bei völlig Unbekannten. Immer.«
»Aus Angst?«
»Ja, sie ist groß, glaube ich.«
»Diese Art von Angst vor Männern habe ich, glaube ich, nicht«, sagte Aomame.
»Hast du überhaupt vor etwas Angst, Aomame?«
»Natürlich«, sagte Aomame. »Am meisten vor mir selbst. Dass ich nicht weiß, was ich tue. Dass ich nicht genau weiß, was ich im Moment gerade tue.«
»Und was tust du gerade?«
Aomame betrachtete einen Augenblick das Weinglas in ihrer Hand. »Wenn ich das wüsste«, sagte sie und schaute auf. »Aber ich weiß es nicht. Ich bin nicht einmal sicher, wo ich bin und in welchem Jahr.«
»Wir haben das Jahr 1984 und sind in Tokio, in Japan.«
»Wenn ich das nur mit solcher Überzeugung behaupten könnte wie du.«
»Du bist ja komisch.« Ayumi lachte. »So offenkundige Sachverhalte haben doch nichts mit Überzeugungen und Behauptungen zu tun.«
»Ich kann dir das jetzt nicht gut erklären, aber für mich sind das eben keine offenkundigen Sachverhalte.«
»Aha«, sagte Ayumi interessiert. »Was ich jetzt davon halten soll, weiß ich nicht, aber egal welches Jahr wir haben und wo wir sind, du hast zumindest einen Menschen, den du aus ganzem Herzen liebst. Aus meiner Sicht ist das sehr beneidenswert. Ich habe so jemanden nicht.«
Aomame stellte ihr Glas auf den Tisch und tupfte sich den Mund mit der Serviette ab. »Vielleicht ist es ja, wie du sagst. Egal welches Jahr wir haben und wo ich bin, ich möchte ihn so gern sehen. So sehr, dass ich sterben könnte. Das ist das Einzige, was ich sicher weiß. Das Einzige, auf das ich vertraue.«
»Wenn du willst, kann ich ja mal in der Polizeikartei nachschauen? Wenn du mir ein paar Informationen gibst, könnte ich vielleicht rauskriegen, wo er ist und was er macht.«
Aomame schüttelte den Kopf. »Nein, nicht suchen. Bitte nicht. Wie gesagt, ich möchte ihm einfach irgendwann irgendwo begegnen. Ganz durch Zufall, weißt du. Darauf werde ich geduldig warten.«
»Die unendliche Liebesgeschichte«, sagte Ayumi bewundernd. »Ah, wie ich das liebe – ah, was für ein Feuer!«
»Aber in der Wirklichkeit tut es richtig weh.«
»Das weiß ich doch«, sagte Ayumi. Und drückte die Fingerkuppen leicht gegen die Schläfen. »Und obwohl du jemanden liebst, willst du ab und zu mit einem fremden Mann schlafen.«
Aomame klopfte mit dem Nagel an den Rand des dünnen Weinglases. »Ich brauche das. Um ein Mensch aus Fleisch und Blut zu bleiben.«
»Aber kann deine Liebe dadurch keinen Schaden nehmen?«
»Es ist wie mit den Begierden im Zentrum des tibetischen Lebensrads. Wenn das Rad sich dreht, steigen und fallen die Verdienste und Gefühle, die es von außen umgeben. Sie kommen ans Licht oder tauchen ins Dunkel. Aber die wahre Liebe bewegt sich nicht, sie gehört nicht dazu.«
»Wunderbar«, sagte Ayumi. »Das tibetische Lebensrad.«
Und sie trank den restlichen Wein in ihrem Glas aus.
Zwei Tage darauf erhielt Aomame gegen acht Uhr abends einen Anruf von Tamaru. Wie immer überging er die Begrüßung und kam direkt und sehr dienstbeflissen zur Sache.
»Hättest du morgen Nachmittag einen Termin frei?«
»Ja, ich habe nichts vor, wann würde es am besten passen?«
»Wie wäre es mit halb fünf?«
»Ist mir recht«, sagte Aomame.
»Gut«, sagte Tamaru. Es war zu hören, wie er die Zeit in den Terminkalender eintrug. Er drückte beim Schreiben stark auf.
»Wie geht es übrigens der kleinen Tsubasa?«, fragte Aomame.
»Allmählich besser, glaube ich. Madame besucht sie jeden Tag und beschäftigt sich mit ihr. Das Kind hat Vertrauen zu ihr gefasst.«
»Da bin ich froh.«
»Ja, das ist gut. Aber es ist auch etwas ziemlich Unangenehmes passiert.«
»Was denn?«, fragte Aomame. Sie wusste, wenn Tamaru »ziemlich« sagte, musste es etwas sehr Unangenehmes sein.
»Der Hund ist
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