1Q84: Buch 1&2
davon. Wenn er sich meldet, habe ich eine Nachricht für dich. Eine wichtige Nachricht. Ich piepse dich nicht an, um dir jahreszeitliche Grüße oder so was zu übermitteln. Du rufst dann sofort die angezeigte Nummer an. Möglichst von einem öffentlichen Fernsprecher aus. Und noch eins. Falls du irgendwelches Gepäck hast, deponierst du es am besten in einem Schließfach am Bahnhof Shinjuku.«
»Bahnhof Shinjuku«, wiederholte Aomame.
»Dass du dich auf das Nötigste beschränken solltest, brauche ich dir ja nicht zu sagen.«
»Ist klar«, sagte sie.
Zu Hause angekommen, zog Aomame sorgfältig die Vorhänge zu und nahm die Heckler & Koch samt Munition aus ihrer Umhängetasche. Dann setzte sie sich an den Küchentisch und übte mehrmals, das leere Magazin herauszunehmen und wieder hineinzuschieben. Mit jedem Mal ging es schneller. Ihre Bewegungen wurden rhythmisch, und auch ihre Hände zitterten nicht mehr. Am Ende legte sie die Waffe, die sie in ein altes T-Shirt gewickelt hatte, in einen Schuhkarton und stellte ihn in den Schrank. Die Plastiktüte mit der Munition versteckte sie in einer Tasche ihres Regenmantels, der auf einem Bügel hing. Sie hatte auf einmal großen Durst und trank drei Gläser von dem Mugicha, dem Gerstentee, den sie im Kühlschrank hatte. Ihre Nackenmuskeln waren von der Anspannung ganz steif, und sie roch nach Schweiß unter den Achseln, was bei ihr so gut wie nie vorkam. Allein durch das Bewusstsein, eine Waffe zu besitzen, hatte sich ihre Weltsicht verändert. Ihre Umgebung hatte eine ungewohnte, sonderbare Atmosphäre angenommen.
Sie zog sich aus und spülte den unangenehmen Schweißgeruch mit einer heißen Dusche fort.
Nicht jede Waffe muss abgefeuert werden, sagte Aomame zu sich selbst, während sie unter der Dusche stand. Eine Pistole ist nicht mehr als ein Werkzeug. Außerdem lebe ich nicht in einer fiktiven Welt. Meine Welt ist die Realität mit ihren offenen Enden, Widersprüchen und Enttäuschungen.
Zwei Wochen verstrichen, ohne dass etwas geschah. Aomame ging wie üblich in das Sportstudio und gab Kurse in Kampfsport und Stretching, denn sie durfte ihre Lebensgewohnheiten ja nicht ändern. Sie hielt sich möglichst exakt an das, was die alte Dame ihr geraten hatte. Jeden Abend zog sie nach ihrer einsamen Mahlzeit die Vorhänge sorgfältig zu und übte am Küchentisch den Umgang mit der HK 4. Immer wieder.
Das Gewicht der Waffe, ihre metallische Härte, der Geruch nach Schmieröl, die ihr innewohnende Zerstörungskraft und Ruhe wurden nach und nach zu einem Teil von ihr.
Mitunter verband sie sich sogar mit einem Schal die Augen. Blind schob sie das Magazin ein, entsicherte und zog den Schlitten zurück. Inzwischen empfand sie das rhythmische Klacken, das jede ihrer Bewegungen hervorrief, als angenehm. Im Dunkeln wurden die Geräusche, die die Waffe in ihrer Hand physisch erzeugte, und deren Wahrnehmung durch ihr Gehör bald eins. Die Grenzen zwischen ihr selbst und dem, was sie tat, verschwammen immer mehr, bis sie sich schließlich ganz auflösten.
Einmal am Tag stellte sie sich vor den Spiegel im Badezimmer und steckte sich die geladene Pistole in den Mund. Während sie die Härte des Metalls an ihren Zähnen spürte, stellte sie sich vor, abzudrücken. Eine geringfügige Bewegung würde genügen, um ihr Leben zu beenden. Im nächsten Augenblick wäre sie aus dieser Welt verschwunden. Doch dabei hatte sie mehrere Punkte zu beachten. Sie zählte sie sich einzeln vor dem Spiegel auf. Ihre Hände durften nicht zittern. Sie musste den Rückstoß abfangen. Durfte keine Angst haben. Und vor allem nicht zögern.
Wenn ich wollte, dachte Aomame, könnte ich es sogar jetzt tun. Ich müsste meinen Finger nur einen Zentimeter zurückziehen. Es wäre ganz einfach. Soll ich? Wäre das so schlimm? Aber dann überlegte sie es sich anders, nahm die Pistole aus dem Mund, entspannte den Schlaghahn, sicherte die Waffe und legte sie auf die Ablage am Waschbecken. Zwischen Zahnpasta und Haarbürste. Nein, es war noch zu früh. Vorher hatte sie noch etwas zu erledigen.
Wie Tamaru ihr geraten hatte, trug sie den Pager stets an der Hüfte. Nachts legte sie ihn neben ihren Wecker, damit sie jederzeit reagieren konnte. Aber er piepste nicht. Bereits eine Woche war vergangen.
Die Pistole im Schuhkarton, die sieben Patronen in der Tasche ihres Regenmantels, der schweigende Pager, ihr Eispick, seine tödliche, fein geschliffene Spitze, ihre persönlichen Dinge in der Reisetasche. Das neue Gesicht
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