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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Schließlich hob sie mit zitternden Fingern die 9-mm-Patrone vom Boden auf. Ihre Kehle war trocken, und das Atmen schmerzte.
    »Nicht schlecht fürs erste Mal«, sagte Tamaru, während er die Patrone wieder in das Magazin einfügte. »Aber du brauchst mehr Übung. Außerdem zittern deine Hände. Wenn du mehrmals am Tag übst, geht dir das Gefühl für die Waffe in Fleisch und Blut über. Damit du das Laden automatisch beherrschst, wie ich es dir vorhin gezeigt habe. Auch im Dunkeln. In deinem Fall wird es nicht nötig sein, dass du das Magazin mitten in einer Aktion austauschst, aber diese Handgriffe sind für jeden, der mit einer Pistole umgeht, die Basis. Man muss sie kennen.«
    »Muss ich nicht schießen üben?«
    »Du willst doch niemanden erschießen. Höchstens dich selbst. Oder?«
    Aomame nickte.
    »Also brauchst du keine Schießübungen. Es genügt, wenn du weißt, wie man die Munition einlegt, entsichert und abdrückt. Hast du denn vor, irgendwo zu üben?«
    Aomame schüttelte den Kopf. Sie konnte sich auch nicht vorstellen, wo.
    »Du sagst, du willst dich eventuell erschießen, aber wie willst du das denn machen? Gib mir mal eine Vorstellung.«
    Tamaru schob das geladene Magazin in die Pistole, sicherte sie und reichte sie Aomame. »Sie ist gesichert«, sagte er.
    Aomame drückte sich die Mündung an die Schläfe. Sie spürte den kalten Stahl. Tamaru sah zu und wiegte den Kopf.
    »Ich will dir nicht zu nahe treten, aber es ist besser, nicht auf die Schläfe zu zielen. Von der Schläfe aus das Gehirn zu durchschlagen ist weitaus schwieriger, als man denkt. Naturgemäß kann einem die Hand zittern, und wenn die Hand zittert, nimmt sie den Rückstoß auf, und die Kugel kann fehlgehen. In vielen Fällen wird der Schädel nur gestreift, und man ist nicht tot. Das möchte man nicht erleben.«
    Aomame schüttelte stumm den Kopf.
    »Als die Amerikaner General Hideki Tojo nach dem Krieg verhafteten, wollte er sich ins Herz schießen, aber die Kugel ging vorbei, er traf sich in den Bauch und überlebte. Du siehst, nicht einmal einem Mann, der – wenn auch mehr recht als schlecht – ein Berufsheer angeführt hat, ist es gelungen, mit einer Pistole Selbstmord zu begehen. Tojo wurde sofort ins Krankenhaus gebracht und von einem amerikanischen Ärzteteam behandelt. Als er genesen war, stellten sie ihn vor Gericht und hängten ihn anschließend auf. Eine schreckliche Art zu sterben. Der Tod ist immerhin ein wichtiger Augenblick im Leben eines Menschen. Seine Geburt kann man sich nicht aussuchen, seinen Tod schon.«
    Aomame biss sich auf die Lippen.
    »Das Sicherste ist, sich den Lauf in den Mund zu stecken und von unten das Gehirn wegzupusten. So –«
    Tamaru nahm Aomame die Pistole aus der Hand und demonstrierte es ihr. Sie wusste zwar, dass die Waffe gesichert war; dennoch schnürte der Anblick ihr die Kehle zu. Das Atmen fiel ihr schwer.
    »Allerdings gibt es auch hier keine hundertprozentige Garantie. Ich kenne einen Mann, der einen solchen Versuch überlebt hat und nun ein sehr trauriges Dasein führt. Wir waren zusammen bei den Streitkräften. Er hatte sich den Lauf eines Gewehrs in den Mund gesteckt, einen Löffel am Abzug befestigt und mit dem großen Zeh abgedrückt. Doch wahrscheinlich geriet der Lauf ins Wackeln. Er blieb am Leben und vegetiert nun schon seit zehn Jahren dahin. Es ist gar nicht so einfach für einen Menschen, sein Leben zu beenden. Im Film sehen Selbstmorde immer so kurz und schmerzlos aus. Die Leute fallen um und sind tot. Aber in der Realität ist das etwas anderes. Wenn es nicht klappt, liegst du da und machst zehn Jahre lang ins Bett.«
    Aomame nickte wortlos.
    Tamaru nahm das Magazin und die Munition aus der Waffe und packte sie in separate Plastikbeutel. Dann reichte er Aomame erst die Waffe und dann die Munition. »Sie ist nicht geladen.«
    Aomame nickte.
    Tamaru fuhr fort. »Ich will dich nicht belehren, aber ich finde es klüger, ans Überleben zu denken. Und realistischer. Das ist mein Rat.«
    »Danke«, sagte Aomame mit rauer Stimme. Sie wickelte die HK 4 in einen Schal und packte sie tief in ihre Umhängetasche. Die Tüte mit der Munition steckte sie in ein Seitenfach. Die Tasche war nun etwa fünfhundert Gramm schwerer, aber an ihrem Umfang hatte sich nichts verändert. Es war wirklich eine kleine Pistole.
    »Amateuren sollte man so etwas nicht in die Hand geben«, sagte Tamaru. »Meiner Erfahrung nach kommt dabei nichts Gutes heraus. Aber du wirst schon richtig damit umgehen.

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