1Q84: Buch 1&2
beschäftigen.
Falls Fukaeri weiter verschwunden blieb, war es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die Journalisten ihre Nachforschungen ausdehnen würden. Sollte beispielsweise jemand ihre ehemalige Schule aufsuchen und dort Fragen stellen, käme bestimmt heraus, dass sie Legasthenikerin war. Vielleicht würden ihre Noten in Japanisch und sogar die Aufsätze, die sie geschrieben hatte – falls sie überhaupt welche geschrieben hatte –, an die Öffentlichkeit gelangen. Selbstverständlich würden sich Zweifel regen: War es nicht ungewöhnlich, dass ein Mädchen mit einer Lese- und Schreibbehinderung so korrekt zu schreiben vermochte? Und wenn es erst einmal so weit war, musste man kein Genie sein, um auf die Idee zu kommen, dass ihr »wahrscheinlich eine zweite Person geholfen« hatte.
Natürlich würde der Verdacht zuerst auf Komatsu fallen. Denn er war der für Die Puppe aus Luft zuständige Redakteur und hatte die Veröffentlichung betreut. Komatsu würde völlige Unschuld heucheln und mit eiskalter Miene behaupten, er habe das eingereichte Manuskript lediglich, so wie es war, an die Jury weitergegeben. Das Ausmaß der Bearbeitung entziehe sich seiner Kenntnis. Die Fähigkeit zu ungerührtem Leugnen besaßen mehr oder weniger alle erfahrenen Redakteure und Lektoren, aber Komatsu verstand sich besonders gut darauf. Er würde auf der Stelle Tengo anrufen und sagen: »Tengo, mein Freund, jetzt machen sie uns Feuer unterm Arsch.« Oder etwas Ähnliches. In einem begeisterten Ton, als hätte er richtig Spaß daran.
Tatsächlich hatte Tengo schon öfter das Gefühl gehabt, dass Komatsu Probleme richtiggehend genoss. Bisweilen glaubte er sogar, einen gewissen Zerstörungswillen an ihm zu erkennen. Vielleicht wünschte er sich im Grunde seines Herzens, dass der ganze Plan aufflog und es zu einem Riesenskandal kam, bei dem alle Beteiligten hochgingen. Zuzutrauen war ihm das. Gleichzeitig war er jedoch genug kühler Realist, um den Rand des Abgrunds nicht zu überschreiten und seine irrationalen Wünsche im Zaum zu halten.
Vielleicht hatte Komatsu auch eine Art Notfallplan, der ihm das Überleben sicherte, egal was geschah. Wie er allerdings aus dieser Geschichte herauskommen wollte, konnte Tengo sich nicht vorstellen. Vielleicht besaß Komatsu einfach die Fähigkeit, aus allem – ob drohender Skandal oder Ruin – Nutzen zu ziehen. Er hatte wirklich keine Veranlassung, über Professor Ebisuno herzuziehen, wo er selbst so gerissen war. Doch wie dem auch sei, sollten verdächtige Wolken am Horizont aufziehen, würde sich Komatsu ganz sicher bei ihm melden. Davon war Tengo überzeugt. Bisher war er für Komatsu hauptsächlich ein nützliches und stets funktionierendes Werkzeug gewesen, doch inzwischen war er auch seine Achillesferse. Würde Tengo auspacken, säße Komatsu bestimmt in der Klemme. Tengo hatte sich zu einem Faktor entwickelt, mit dem er rechnen musste. Allein deshalb konnte er Komatsus Anruf in aller Ruhe abwarten. Und solange der nicht kam, machte ihm auch noch keiner »Feuer unterm Arsch«.
Eher hätte ihn interessiert, in welche Richtung Professor Ebisuno agierte. Ganz unzweifelhaft hatte er etwas mit der Polizei am Laufen. Vielleicht hatte er den Behörden die Möglichkeit suggeriert, dass die Vorreiter etwas mit Fukaeris Verschwinden zu tun hätten. Ihr Verschwinden war das Werkzeug, mit dem er die harte Schale der Sekte zu knacken versuchte. Ob die Polizei in diese Richtung vorging? Wahrscheinlich. Die Medien hatten sich bereits auf die Verbindung zwischen Fukaeri und den Vorreitern gestürzt. Käme später in diesem Zusammenhang etwas Wichtiges heraus, ohne dass die Polizei etwas unternommen hatte, würde man sie der Nachlässigkeit bezichtigen. In jedem Fall führte sie ihre Ermittlungen ganz sicher heimlich und verdeckt durch. Also würde Tengo aus den Wochenblättern und Fernsehnachrichten ohnehin keine aktuellen Erkenntnisse erhalten.
Als er eines Tages von der Schule nach Hause kam, steckte in seinem Briefkasten ein dicker Umschlag. Er kam von Komatsu und war mit dem Logo des Verlags und sechs Express-Stempeln versehen. Tengo ging hinauf in seine Wohnung, um ihn zu öffnen. Er enthielt Kopien der Rezensionen von Die Puppe aus Luft und einen Brief. Wie üblich hatte Komatsu das Papier so eng beschrieben, dass es eine Weile dauerte, ihn zu entziffern.
»Lieber Tengo,
im Augenblick gibt es nichts Neues. Wo Fukaeri sich aufhält, ist noch immer ungeklärt. Glücklicherweise beschäftigen sich
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