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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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anderen Ausgang gerechnet. Alles, was sie hatte tun können, war beten. Aber sie hatte es gewusst. Beten half.
    Aomame zog sich in dem geräumigen Ankleidezimmer um und legte ihre Bluse und die Baumwollhose gefaltet in die Tasche. Sie vergewisserte sich, dass ihr Haar fest saß, und sprühte sich etwas Atemspray in den Mund. Sie nahm die Heckler & Koch aus dem Beutel. Nachdem sie die Toilettenspülung betätigt hatte, um das Geräusch zu übertönen, zog sie den Schlitten zurück und ließ die Patrone in die Kammer. Anschließend entsicherte sie die Waffe. Das Etui mit dem Eispick kam griffbereit ganz oben in die Tasche. Nun wandte sie sich dem Spiegel zu und entspannte ihre Züge. Ganz ruhig. Bis jetzt hast du dich tapfer geschlagen.
    Als Aomame aus dem Ankleidezimmer kam, stand der Kahle in aufrechter Haltung mit dem Rücken zu ihr und telefonierte leise. Sobald er Aomame bemerkte, unterbrach er sein Gespräch und legte ruhig auf. Prüfend musterte er sie in ihrem Adidas-Trikot.
    »Sind Sie so weit?«, fragte er.
    »Jederzeit«, sagte Aomame.
    »Vorher hätte ich noch eine Bitte.«
    Aomame schenkte ihm die Andeutung eines Lächelns.
    »Ich möchte, dass Sie über den heutigen Abend Stillschweigen bewahren«, sagte er. Er machte eine kleine Pause und wartete, dass seine Botschaft in Aomames Bewusstsein drang. Als würde er darauf warten, dass vergossenes Wasser in einen trockenen Boden einsickerte und verschwand. Aomame sah ihn wortlos an. Der Kahle fuhr fort.
    »Vielleicht ist es nicht besonders vornehm, darauf hinzuweisen, aber man beabsichtigt, Ihnen ein ansehnliches Honorar zu zahlen. Und Sie von nun an eventuell noch öfter hierherzubemühen. Daher vergessen Sie bitte alles, was heute hier geschieht. Was Sie sehen, was Sie hören, alles.«
    »Es ist mein Beruf, auf diese Weise mit menschlichen Körpern umzugehen«, sagte Aomame in äußerst kühlem Ton. »Und ich bin mir meiner Verpflichtung zur Diskretion bewusst. Unter keinen Umständen werden Informationen, die die persönliche Physis meines Klienten betreffen, diese Räumlichkeiten verlassen. Da müssen Sie sich keine Sorgen machen.«
    »Gut. Mehr wollte ich nicht hören«, sagte der Kahle. »Allerdings geht das, was ich meine, über die herkömmliche Bedeutung von Diskretion hinaus. Bitte seien Sie sich dessen bewusst. Der Ort, den Sie gleich betreten werden, ist sozusagen eine geheiligte Stätte.«
    »Eine geheiligte Stätte?«
    »Es klingt vielleicht übertrieben, ist es aber nicht. Was Sie jetzt sehen und mit Ihren Händen berühren werden, ist heilig . Es gibt keinen passenderen Ausdruck dafür.«
    Aomame nickte nur stumm. Lieber nichts Unnötiges sagen.
    Der Kahle sprach weiter. »Es tut mir leid, aber wir haben Ihre persönlichen Hintergründe untersucht. Das ist Ihnen sicher nicht angenehm, aber es musste sein. Wir haben gewichtige Gründe.«
    Während sie ihm zuhörte, sah sie sich nach dem Pferdeschwanz um. Er saß mit geradem Rücken auf einem Stuhl neben der Tür, beide Hände auf die Knie gelegt und das Kinn eingezogen. Seine Haltung war völlig unbewegt, als würde er für eine Fotografie posieren. Dabei ließ er Aomame kein einziges Mal aus den Augen.
    Der Kahle warf einen kurzen Blick nach unten, wie um den abgewetzten Zustand seiner schwarzen Schuhe zu überprüfen. Dann hob er den Kopf und sah Aomame an. »Abschließend kann ich sagen, dass wir auf nichts gestoßen sind, das ein Problem darstellen könnte. Deshalb haben wir Sie heute hergebeten. Es heißt, Sie seien eine sehr kompetente Trainerin. Ihr Ruf ist ausgezeichnet.«
    »Vielen Dank«, sagte Aomame.
    »Wir haben erfahren, dass Sie selbst Zeugin Jehovas waren. Das ist doch richtig?«
    »Ja. Meine Eltern waren Mitglieder, und so war ich es auch von Geburt an«, sagte Aomame. »Nicht aus eigenem Willen. Ich bin schon vor sehr langer Zeit ausgetreten.«
    Ob sie auch herausbekommen haben, dass Ayumi und ich ab und zu in Roppongi Männer aufgerissen haben? Nein, so was interessiert sie nicht. Und selbst wenn sie es herausgefunden haben, scheinen sie es nicht für wichtig oder unverzeihlich zu halten. Sonst wäre ich ja jetzt nicht hier.
    »Auch das wissen wir«, fuhr der Mann fort. »Immerhin haben Sie eine gewisse Zeit in einer Gemeinschaft von Gläubigen gelebt. Während der Kindheit ist so etwas sehr prägend. Daher verstehen Sie sicher ungefähr, was es bedeutet, wenn etwas heilig ist. Dieses Heilige ist die bedeutendste Grundlage jedes Glaubens. Es gibt Bereiche auf dieser Welt, die

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