1Q84: Buch 1&2
uns«, sagte Fukaeri.
»Die Little People?«, fragte Tengo.
Fukaeri antwortete nicht.
»Sie wissen, dass wir hier sind«, sagte Tengo.
»Natürlich wissen sie das«, sagte Fukaeri.
»Haben sie etwas mit uns vor?«
»Sie können uns nichts tun.«
»Da bin ich froh«, sagte Tengo.
»Im Moment.«
»Sie können uns also im Moment nichts anhaben«, wiederholte Tengo mit kraftloser Stimme. »Aber wir wissen nicht, wie lange das so bleibt.«
»Das weiß niemand«, erklärte Fukaeri entschieden.
»Könnten sie stattdessen jemandem in unserer Umgebung etwas antun?«, fragte Tengo.
»Das könnte sein.«
»Etwas Schreckliches?«
Fukaeri kniff angestrengt die Augen zusammen, wie ein Seemann, der den Gesang von Schiffsgeistern zu hören versucht. »Es kommt darauf an«, sagte sie dann.
»Vielleicht haben die Little People ihre Macht gegen meine Freundin eingesetzt. Als Warnung für mich.«
Fukaeri zog ruhig eine Hand unter der Bettdecke hervor und kratzte sich mehrmals an ihrem taufrischen Ohr. Dann schob sie die Hand ebenso ruhig wieder unter die Decke. »Ihre Macht hat Grenzen.«
Tengo biss sich auf die Lippen. »Was können sie denn zum Beispiel konkret?«, fragte er.
Fukaeri schien etwas dazu sagen zu wollen, überlegte es sich jedoch anders und zog sich, ohne eine Meinung zu äußern, allein an ihren Ursprung zurück. Wo dieser sich befand, wusste er nicht, aber er war tief und dunkel.
»Du hast gesagt, die Little People verfügen über Weisheit und Macht.«
Fukaeri nickte.
»Aber weil sie im Wald leben, können sie ihre Fähigkeiten nicht mehr richtig einsetzen, wenn sie ihn verlassen. Und es gibt auf dieser Welt irgendwelche Werte, die man ihrer Weisheit und Macht entgegensetzen kann. Ist es so?«
Fukaeri antwortete nicht. Wahrscheinlich war die Frage zu lang gewesen.
»Du bist den Little People schon einmal begegnet?«, fragte Tengo.
Fukaeri starrte ihm vage ins Gesicht, als könne sie die Bedeutung seiner Frage nicht erfassen.
»Du hast sie tatsächlich schon mit eigenen Augen gesehen«, fragte Tengo noch einmal.
»Ja«, sagte Fukaeri.
»Wie viele von ihnen hast du gesehen?«
»Ich weiß nicht. Man kann sie nicht an den Fingern abzählen.«
»Aber es war nicht nur einer.«
»Es waren mal mehr, mal weniger. Aber nicht nur einer.«
»Sie sind, wie du sie in deiner Geschichte beschrieben hast.«
Fukaeri nickte.
Spontan stellte Tengo die Frage, die er ihr schon immer hatte stellen wollen. »Inwieweit haben die Geschehnisse in Die Puppe aus Luft wirklich stattgefunden?«
»Was heißt wirklich«, fragte Fukaeri ohne fragende Intonation.
Darauf wusste Tengo natürlich keine Antwort.
Donnerschläge krachten vom Himmel. Die Fensterscheiben zitterten. Aber noch immer blitzte es nicht. Auch kein Regen rauschte nieder. Tengo fühlte sich an einen U-Boot-Film erinnert, den er vor längerer Zeit einmal gesehen hatte. Darin detonierte eine Seemine nach der anderen und brachte das Boot heftig ins Schwanken. Aber die Männer waren in dem stockdunklen stählernen Gehäuse eingeschlossen, ohne etwas sehen zu können. Es gab nur unablässiges Dröhnen und Vibrieren.
»Können Sie mir vorlesen oder sich mit mir unterhalten«, fragte Fukaeri.
»Klar«, sagte Tengo. »Zum Vorlesen fällt mir nichts Passendes ein. Aber wenn du mit der Geschichte von der ›Stadt der Katzen‹ einverstanden bist, kann ich sie dir erzählen. Ich habe das Buch nicht zur Hand.«
»Stadt der Katzen.«
»Es geht um eine Stadt, in der Katzen herrschen.«
»Die Geschichte will ich hören.«
»Vielleicht ist sie ein bisschen zu unheimlich vor dem Schlafengehen.«
»Macht nichts. Ich kann bei jeder Geschichte einschlafen.«
Tengo zog sich einen Stuhl ans Bett, setzte sich, faltete die Hände im Schoß und begann, begleitet von Donnerschlägen, von der ›Stadt der Katzen‹ zu erzählen. Er hatte die Geschichte zweimal im Zug gelesen und noch einmal bei seinem Vater. Daher hatte er die Handlung einigermaßen im Kopf. Die Geschichte war weder kompliziert noch in einem besonders raffinierten Stil verfasst. So hatte Tengo keine großen Hemmungen, sie etwas abzuwandeln, indem er langatmige Passagen abkürzte und ein paar Erklärungen ergänzte.
Eigentlich war sie nicht sehr umfangreich, aber sie zu erzählen dauerte länger, als er gedacht hatte. Was auch daran lag, dass er sich unterbrach, sooft Fukaeri eine Frage stellte, um sie ausführlich zu beantworten. Er beschrieb die Stadt, das Verhalten der Katzen und den Charakter des
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