1Q84: Buch 1&2
also eine Weiche umgestellt«, sagte Aomame. »Das heißt, andernfalls wären Sie und ich uns gar nicht begegnet?«
»Das kann niemand wissen. Es ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit. Aber vermutlich haben Sie recht.«
»Sprechen Sie von Fakten, oder ist das alles rein hypothetisch?«
»Gute Frage. Aber das voneinander zu unterscheiden ist nahezu unmöglich. In einem alten Schlager gibt es die Zeile: Without your love, it’s a honkey-tonk parade .« Der Mann sang leise die Melodie. »Ohne deine Liebe ist alles Tingeltangel. Kennen Sie das Lied?«
»›It’s Only a Paper Moon.‹«
»1984 und 1Q84 sind im Prinzip genauso aufgebaut. Wenn du nicht an sie glauben würdest und diese Liebe nicht hättest, wäre alles nichts als billiger Tand. Ganz gleich in welcher Welt man sich befindet – die Grenze, die Fakt und Vermutung voneinander trennt, ist meist nicht sichtbar. Man erkennt sie nur mit dem Herzen.«
»Wer hat die Weiche umgestellt?«
»Tja, wer nur? Auch das ist schwer zu beantworten. Das Gesetz von Ursache und Wirkung hat hier so gut wie keine Macht.«
»Also hat mich irgendein Wille in das Jahr 1Q84 versetzt«, sagte Aomame. »Und mein eigener war es jedenfalls nicht.«
»Genau. Dadurch, dass der Zug, in dem du warst, umgeleitet wurde, bist du hier gelandet.«
»Sind dafür die Little People verantwortlich?«
»Es gibt solche ›Little People‹, wie sie zumindest hier genannt werden. Doch nicht immer haben sie eine Gestalt oder einen Namen.«
Aomame biss sich nachdenklich auf die Lippen. »Ich finde das, was Sie sagen, widersprüchlich. Angenommen, die Little People oder so was haben wirklich eine Weiche umgestellt und mich damit in das Jahr 1Q84 transportiert. Wieso sollten sie das tun, wo sie doch gar nicht wollen, dass ich Sie töte? Wo es doch eher in ihrem Interesse läge, mich von Ihnen fernzuhalten.«
»Das ist nicht leicht zu erklären«, sagte der Mann in unbewegtem Ton. »Aber dein Verstand arbeitet schnell. Ich versuche es dir verständlich zu machen, auch wenn ich mich vielleicht etwas unklar ausdrücke. Wie gesagt, für die Welt, in der wir leben, ist es von größter Bedeutung, dass das Verhältnis von Gut und Böse sich die Waage hält. Die Little People oder irgendein Wille , der ihnen innewohnt, besitzen große Macht. Doch je mehr sie ihre Macht einsetzen, desto stärker reagieren die Gegenkräfte. Das ist ein Automatismus. Auf diese Weise erhält sich das sensible Gleichgewicht der Welt. Dieses Prinzip herrscht unterschiedslos in jeder Welt. Also auch im Jahr 1Q84, in dem wir uns augenblicklich befinden. Als die Little People begannen, ihre ungeheure Macht zu demonstrieren, ist also automatisch eine Gegenbewegung entstanden. Und in deren Sog bist du wahrscheinlich hierhergelangt.«
Der Mann, der mit seinem gewaltigen Leib auf der blauen Yogamatte lag wie ein gestrandeter Wal, stieß einen tiefen Seufzer aus.
»Wenn wir bei der Eisenbahn-Analogie bleiben, ließe sich Folgendes konstruieren: Die Little People sind also in der Lage, Weichen zu stellen. Infolge einer Umstellung gelangt der Zug auf dieses Gleis, das Gleis des Jahres 1Q84. Aber die Fähigkeiten der Little People reichen nicht aus, um die Fahrgäste, die in dem Zug sitzen, einzeln zu identifizieren und zu sortieren. Das heißt, es bleiben eventuell unerwünschte Personen im Zug.«
»Ungebetene Gäste«, sagte Aomame.
»Genau.«
Donner grollte. Wesentlich lauter als zuvor. Aber es blitzte nicht. Nur das Krachen der Donnerschläge war zu hören. Wie seltsam, dachte Aomame. Der Donner ist so nah, aber man sieht keinen Blitz. Es regnet nicht einmal.
»Hast du so weit verstanden?«
Aomame bejahte. Sie hatte ihren Eispick bereits von dem bewussten Punkt im Nacken zurückgezogen und hielt die Spitze nun behutsam in die Höhe. Sie musste sich jetzt ganz auf das konzentrieren, was der Mann sagte.
»Wo Licht ist, muss es auch Schatten geben, und wo Schatten ist, gibt es Licht. Es gibt keinen Schatten ohne Licht und kein Licht ohne Schatten. C. G. Jung beschreibt dies in einem seiner Werke:
›Unser Schatten ist so böse, wie wir gut sind … Je verzweifelter wir uns bemühen, gut und wunderbar und vollkommen zu werden, desto stärker entwickelt der Schatten den festen Willen, dunkel und böse und zerstörerisch zu sein … Streben wir also über das Maß unserer Fähigkeiten hinaus nach Vollkommenheit, steigt der Schatten in die Hölle hinab und wird zum Teufel. Denn nach den Prinzipien der Natur und der Wahrheit ist
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