1Q84: Buch 1&2
denken. Und nicht mehr flüchten.
Aomame fürchtete sich nicht vor dem Tod. Ich sterbe, damit Tengo am Leben bleibt, dachte sie. Er wird von nun an in der Welt mit den zwei Monden leben. Aber ich gehöre nicht mehr dazu . Ich werde ihn nie wiedersehen. Auf keiner Welt, weder in dieser noch in einer anderen. Zumindest hat das der Leader gesagt.
Noch einmal schaute Aomame sich um. Es sieht hier wirklich aus wie in einer Musterwohnung, dachte sie. Sauber und einheitlich. Alles Notwendige ist vorhanden. Aber es ist unpersönlich und kalt, wie eine Pappkulisse . An einem solchen Ort zu sterben wäre nicht gerade erfreulich. Aber konnte der Tod überhaupt jemals erfreulich sein? Selbst wenn man diese Kulisse durch eine anheimelndere ersetzen würde? War nicht letzten Endes die ganze Welt bloß eine riesige Musterwohnung? Man kam rein, setzte sich hin, trank Tee, schaute aus dem Fenster, und wenn es Zeit wurde, bedankte man sich und ging. Sämtliche Einrichtungsgegenstände waren nicht mehr als läppische Imitationen. Wahrscheinlich waren sogar die Monde vor dem Fenster aus Pappe.
Aber ich liebe Tengo, dachte Aomame. Leise sprach sie die Worte aus. Ich liebe Tengo . Das ist kein Tingeltangel. Wir befinden uns jetzt im Jahr 1Q84, in einer wirklichen Welt, in der Blut fließt. Schmerz war überall Schmerz, und Angst war überall Angst. Die Monde am Himmel waren nicht aus Pappe. Sie waren echt. Alle beide. Ein Paar echter Monde. Und auf dieser Welt werde ich freiwillig für Tengo in den Tod gehen. Und mir von niemandem sagen lassen, das wäre von Pappe .
Aomame warf einen Blick auf die runde Uhr, die an einer Wand hing. Ein schlichtes Design von der Firma Braun. Passend zur Heckler & Koch. Abgesehen von der Uhr waren die Wände kahl. Es war ungefähr zehn Uhr. Die Stunde, in der die beiden Männer die Leiche des Leaders entdecken würden, rückte näher.
Im Schlafzimmer einer Suite des Hotel Okura war ein Mann gestorben. Ein außergewöhnlicher , stattlicher Mann. Er war in eine andere Welt hinübergegangen. Nichts und niemand konnte ihn wieder auf diese Seite zurückbringen.
Und jetzt beginnt die Geisterstunde.
KAPITEL 16
Tengo
Wie ein Geisterschiff
Wie würde die Welt morgen aussehen?
»Das weiß niemand«, sagte Fukaeri.
Doch als Tengo am nächsten Morgen erwachte, machte es nicht den Eindruck, als habe die Welt sich in der Nacht zuvor verändert. Die Uhr an seinem Kopfende stand auf kurz vor sechs. Es war schon hell draußen. Die Luft war frisch und sauber, und ein keilförmiger Lichtstrahl drang durch einen Spalt im Vorhang. Bald würde der Sommer zur Neige gehen. Durchdringendes Vogelgezwitscher ertönte. Tengo kam es fast vor, als habe er sich das heftige Unwetter der letzten Nacht nur eingebildet. Oder als habe es sich in ferner Vergangenheit irgendwo in einem fremden Land zugetragen.
Sein erster Gedanke galt Fukaeri. War sie womöglich in der Nacht verschwunden? Aber sie lag tief und fest schlafend neben ihm, wie ein Tier im Winterschlaf. Auch jetzt war sie wunderschön, und feine schwarze Haare zeichneten ein kompliziertes Muster auf ihre hellen Wangen. Ihre Ohren waren unter ihren Haaren verborgen. Tengo hörte sie leise atmen. Eine Weile schaute er zur Decke und lauschte ihren Atemzügen. Sie ließen ihn an einen kleinen Blasebalg denken.
Er erinnerte sich noch sehr deutlich an seine Ejakulation in der vergangenen Nacht. Der Gedanke, dass er seinen Samen tatsächlich in dieses junge Mädchen ergossen hatte, verstörte ihn heftig. Und auch noch so viel . Im Licht des neuen Tages mutete ihn dieses Erlebnis an wie etwas, das nicht wirklich geschehen war. Genau wie das starke Unwetter hatte es Ähnlichkeit mit einem Traum. Als Teenager hatte er öfter feuchte Träume gehabt. Er hatte sehr realistisch von etwas Sexuellem geträumt und ejakuliert und war anschließend aufgewacht. Der Auslöser war der Traum gewesen, aber die Ejakulation hatte wirklich stattgefunden. Ganz ähnlich fühlte es sich jetzt an.
Aber es hatte sich nicht um einen feuchten Traum gehandelt. Es gab keinen Zweifel, er hatte in Fukaeri ejakuliert. Sie hatte seinen Penis in sich eingeführt und das Sperma herausgepresst. Er war ihr nur gefolgt. Sein Körper war vollständig gelähmt gewesen, und er hatte keinen Finger rühren können. Währenddessen war er überzeugt gewesen, sich im Klassenzimmer seiner alten Grundschule zu befinden. Immerhin hatte Fukaeri ihm versichert, er brauche sich keinerlei Sorgen zu machen, da sie keine Periode
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