1Q84: Buch 1&2
verfolgt. Es gehörte vermutlich zu ihren Eigenarten, ihre Gemeinschaft vor einer nicht gerade wohlwollenden Öffentlichkeit zu schützen.
Jedenfalls war Tengo auf seiner Suche nach Aomame dieser Weg vorläufig verschlossen. Momentan hatte er auch keine Idee, wie und wo er noch suchen konnte. Aomame war ein ungemein seltener Name. Wer ihn einmal gehört hatte, würde ihn so schnell nicht vergessen. Doch bei seinem Versuch, jemanden mit diesem Namen aufzuspüren, war er ziemlich rasch gegen eine dicke Mauer gestoßen.
Vielleicht käme er schneller zum Ziel, wenn er einen der Zeugen Jehovas persönlich befragte. In der Zentrale wäre man vielleicht misstrauisch und würde ihn abweisen, aber ein einzelnes Mitglied wäre vielleicht bereitwilliger. Leider kannte Tengo keinen einzigen Zeugen Jehovas. Und eigentlich hatte er auch seit nahezu zehn Jahren keinen Besuch von ihnen erhalten. Warum kamen diese Leute immer nur, wenn man sie nicht brauchte? Aber wenn man dann mal einen brauchte, ließ sich keiner blicken.
Ihm fiel ein, dass er eine dreizeilige Annonce in der Zeitung aufgeben könnte: »Frau Aomame, bitte melden Sie sich. Dringend. Kawana.« Ein blöder Text. Und selbst wenn Aomame die Anzeige las, warum sollte sie sich melden? Sie würde höchstens misstrauisch werden. Kawana war kein sehr häufiger Name; dennoch konnte Tengo sich kaum vorstellen, dass sie sich noch an seinen Nachnamen erinnern würde. Kawana? Wer ist das denn? Melden würde sie sich jedenfalls nicht. Ob überhaupt irgendjemand auf der Welt solche Kleinanzeigen las?
Eine weitere Möglichkeit wäre es, eine Detektei zu beauftragen. Für diese Leute war es ganz alltäglich, Menschen aufzuspüren. Sie hatten die nötigen Mittel und Verbindungen. Ein Detektiv würde Aomame vielleicht ganz schnell ausfindig machen. Aufgrund weniger Hinweise. Wahrscheinlich würde das gar nicht so viel kosten. Dennoch fand er, er sollte sich dieses Mittel bis zum Schluss aufheben. Zuerst wollte er es auf eigene Faust versuchen. Es war besser, sich zu überlegen, was er selbst noch unternehmen könnte.
Es dämmerte bereits, als er nach Hause kam. Fukaeri saß auf dem Boden und hörte die alten Jazzplatten, die seine Freundin zurückgelassen hatte. Um sie herum lagen Hüllen verstreut: Duke Ellington, Benny Goodman und Billie Holiday. Im Augenblick drehte sich »Chantez les bas« von Louis Armstrong auf dem Plattenteller. Ein eindrucksvolles Lied. Tengo musste an seine Freundin denken. Sie hatten diese Platte oft gehört, beim Sex und auch sonst. Im letzten Teil geriet Trummy Young an der Posaune so in Ekstase, dass er vergaß, sein Solo vorschriftsmäßig zu beenden, und auch noch die letzten acht Takte des Schlussrefrains spielte. Seine Freundin hatte ihn damals darauf aufmerksam gemacht: »Pass auf, jetzt!« Wenn die Platte zu Ende war, oblag es natürlich Tengo, nackt aus dem Bett zu steigen, ins Nebenzimmer zu gehen und sie umzudrehen. Die Erinnerung erfüllte ihn mit Wehmut. Natürlich wäre ihre Beziehung nicht ewig so weitergegangen, aber mit einem so plötzlichen Ende hatte er doch nicht gerechnet.
Es war ein eigenartiges Gefühl für ihn zu sehen, wie Fukaeri eifrig und mit zusammengezogenen Brauen die ihm von Kyoko Yasuda hinterlassenen Schallplatten hörte. Ihre konzentrierte Haltung erweckte den Eindruck, als versuche sie aus den alten Aufnahmen neben der Musik noch etwas anderes herauszuhören. Oder als würde sie ihre Augen anstrengen, um in ihrem Klang irgendwelche Szenen zu sehen.
»Gefallen dir diese Platten?«
»Ich habe alle gehört«, sagte Fukaeri. »Durfte ich.«
»Natürlich. Aber hast du dich allein nicht ein bisschen gelangweilt?«
Fukaeri schüttelte leicht den Kopf. »Ich musste nachdenken.«
Tengo hätte Fukaeri gern zu den Dingen befragt, die in der vergangenen Nacht während des Unwetters zwischen ihnen geschehen waren. Warum hast du das gemacht? Tengo konnte sich nicht vorstellen, dass Fukaeri sich in erotischer Beziehung zu ihm hingezogen fühlte. Also stand das, was geschehen war, wahrscheinlich in keinem Zusammenhang mit Sexualität. Aber was in aller Welt hatte es dann zu bedeuten?
Allerdings hatte Tengo nicht die Hoffnung, eine zufriedenstellende Antwort zu erhalten, selbst wenn er Fukaeri direkt auf den Vorfall ansprechen würde. Außerdem verspürte er nicht die geringste Neigung, an so einem schönen heiteren Septemberabend dieses Thema anzuschneiden. Schweigend, in tiefster Dunkelheit und inmitten eines heftigen
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