1Q84: Buch 1&2
selbst gewünscht, die Strafe für seine Taten auf sich zu nehmen?«
»Nein, er wollte möglichst schnell sterben, um von seinen Schmerzen befreit zu sein.«
»Und deshalb hat er sich von Ihnen töten lassen.«
»So ist es.«
Von ihrer heimlichen Abmachung mit dem Leader sagte Aomame der alten Dame nichts. Die Vereinbarung, dass sie sterben musste, damit Tengo weiterleben konnte, war zwischen ihr und dem Mann geschlossen worden. Sie ging niemand anderen etwas an.
»Was der Mann getan hat, war widerlich und abartig, und sein Tod war notwendig. Aber er war ein außergewöhnlicher Mensch. Zumindest hatte er etwas Besonderes an sich.«
»Etwas Besonderes«, wiederholte die alte Dame.
»Ich kann es nicht gut erklären«, sagte Aomame. »Eine besondere Fähigkeit oder Eigenschaft, die zugleich eine große Bürde für ihn war. Und das scheint ihn von innen her aufgefressen zu haben.«
»Ob dieses besondere Etwas ihn zu seinen widerlichen Taten getrieben hat?«
»Vielleicht.«
»Jedenfalls haben Sie dafür gesorgt, dass es damit nun ein Ende hat.«
»So ist es«, sagte Aomame heiser.
Den Hörer in der linken Hand, spreizte Aomame ihre rechte und betrachtete ihre Handfläche, der noch immer das Gefühl von Tod anhaftete. Was die Mehrdeutigkeit des Wortes vereinigen in Bezug auf den Geschlechtsverkehr mit kleinen Mädchen besagen sollte, war ihr unverständlich. Und natürlich konnte sie der alten Dame auch nicht davon erzählen.
»Wie immer sieht es wie ein natürlicher Tod aus, aber daran werden seine Leute ganz bestimmt nicht glauben. Sie werden sich denken können, dass ich dabei irgendwie meine Finger im Spiel hatte. Ebenso wie Sie haben sie seinen Tod bisher nicht der Polizei gemeldet.«
»Ganz gleich, was diese Leute tun werden, ich werde Sie mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln beschützen«, sagte die alte Dame. »Die haben ihre Organisation. Aber auch ich verfüge über Beziehungen und die nötigen finanziellen Mittel. Und Sie sind ein wachsamer und intelligenter Mensch. Wir werden ihnen einen Strich durch die Rechnung machen.«
»Die Kleine haben Sie noch nicht gefunden?«, fragte Aomame.
»Nein, wir wissen noch immer nicht, wo sie ist. Aber ich vermute, dass sie sich bei den Vorreitern aufhält. Wo sollte sie sonst hin? Im Augenblick habe ich noch keine Möglichkeit gefunden, sie zurückzuholen. Aber durch den Tod des Leaders entsteht vielleicht Verwirrung in der Sekte. Vielleicht können wir das Durcheinander nutzen, um Tsubasa herauszuhelfen. Wir müssen ihr unter allen Umständen beistehen.«
Der Leader hatte behauptet, das Mädchen, das im Frauenhaus gewesen war, habe keine Substanz. Es sei nicht mehr als eine Idee, und man habe es zurückgeholt . Aber das konnte Aomame der alten Dame jetzt nicht sagen. Sie verstand ja selbst nicht, was das bedeutete. Sie dachte an die marmorne Uhr. Sie hatte mit eigenen Augen gesehen, wie sie sich in die Luft erhob.
»Wie lange muss ich mich hier verstecken?«, fragte sie.
»Rechnen Sie mit etwa vier Tagen bis zu einer Woche. Danach erhalten Sie Ihren neuen Namen und kommen in eine neue Umgebung. Sie werden weit fort gehen. Wenn Sie dort sind, müssen wir unseren Kontakt aus Sicherheitsgründen vorläufig einstellen. Wir werden uns eine gewisse Zeit lang nicht sehen. In Anbetracht meines Alters könnte das einen Abschied für immer bedeuten. Unzählige Male habe ich schon gedacht, wie schön es wäre, wenn ich Sie nicht in diese unselige Sache hineingezogen hätte. Dann würde ich Sie vielleicht nicht auf diese Weise verlieren. Aber …«
Die alte Dame brach für einen Moment ab, und Aomame wartete schweigend, dass sie fortfuhr.
»Aber ich bereue es nicht. Vielleicht war das alles so etwas wie Schicksal. Ich konnte nicht anders, als Sie mit hineinzuziehen. Ich hatte gar keine Wahl. Offenbar waren da sehr starke Kräfte am Werk. Ich hoffe, Sie können mir verzeihen, dass alles so gekommen ist.«
»Dafür haben wir etwas gemeinsam. Etwas Wichtiges, etwas, das wir mit niemand anderem teilen. Etwas sonst Unerreichbares.«
»Da haben Sie recht«, sagte die alte Dame.
»Das mit Ihnen zu teilen ist auch für mich sehr wichtig.«
»Danke. Es hilft mir sehr, dass Sie das sagen.«
Auch für Aomame war der Gedanke, dass sie die alte Dame vielleicht nie wiedersehen würde, sehr schmerzlich. Sie war einer der wenigen Menschen, denen sich Aomame verbunden fühlte. Eine ihrer letzten Bindungen an die äußere Welt.
»Leben Sie wohl«, sagte Aomame.
»Leben
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