1Q84: Buch 1&2
schnitzte an einer Maus. In solchen Momenten hörte und sah er nichts. Deshalb habe ich ihm auch nicht mal Lebewohl gesagt. Und wenn er nicht gestorben ist, schnitzt er noch immer Mäuse. Etwas anderes konnte er ja nicht.«
Schweigend wartete Aomame, dass Tamaru weitererzählte.
»Ich denke noch oft an ihn. Das Leben im Waisenhaus war grauenhaft. Es gab unglaublich wenig zu essen, und wir hatten immer Hunger. Im Winter war es entsetzlich kalt. Die Arbeit war hart, und die Älteren quälten die Jüngeren. Aber er empfand sein Leben nicht als besonders schwer. Ein Schnitzmesser und ein Stück Holz, mehr brauchte dieser Junge nicht zu seinem Glück. Nur wenn ihm jemand sein Messer abnahm, gebärdete er sich wie wahnsinnig, aber abgesehen davon war er eigentlich ein friedlicher Kerl, der niemanden störte und immer nur stumm für sich seine Mäuse schnitzte. Anscheinend brauchte er ein Stück Holz nur anzusehen, um zu erkennen, welche Maus sich in welcher Haltung darin verbarg. Es dauerte immer etwas länger, aber sobald er sie einmal entdeckt hatte, musste er sie nur noch mit dem Messer herausschälen. Das hat er mir oft gesagt. ›Mäuse herausholen‹, nannte er es. Und die Mäuse, die er herausholte, sahen aus, als würden sie sich bewegen. Er hat ständig Mäuse herausgeholt, die seiner Vorstellung nach im Holz eingeschlossen waren.«
»Und du hast diesen Jungen beschützt.«
»Nicht dass ich mich darum gerissen hätte, aber irgendwann war das eben mein Posten. Wenn man einmal einen Posten erhalten hatte, musste man ihn auch ausfüllen, komme, was wolle. So waren die Regeln. Und ich befolgte sie. Wenn ihm zum Beispiel aus Blödsinn einer das Schnitzmesser wegnahm, kam ich und haute dem Typ eine rein. Immer und ohne Rücksicht auf Verluste, auch wenn der andere älter oder größer war oder wenn es mehrere waren. Natürlich kam es vor, dass ich selbst Prügel bezog. Sogar öfter. Aber es ging gar nicht um Sieg oder Niederlage. Ob ich nun schlug oder geschlagen wurde, ich musste das Schnitzmesser unter allen Umständen zurückerobern. Darauf kam es an. Verstehst du?«
»Ich glaube schon«, sagte Aomame. »Aber am Ende hast du ihn doch im Stich gelassen.«
»Ich musste allein zurechtkommen und konnte es mir nicht leisten, ewig das Kindermädchen für den Kerl zu spielen. Das ist normal.«
Wieder öffnete Aomame ihre rechte Hand und betrachtete sie.
»Ich habe ein paar Mal gesehen, dass du eine kleine geschnitzte Maus in der Hand hattest. Es war eine von denen, die dieser Junge gemacht hat, nicht wahr?«
»Ja. Er hat mir mal eins von den kleinen Dingern geschenkt. Als ich abgehauen bin, habe ich diese Maus mitgenommen. Ich habe sie noch immer.«
»Und warum hast du mir diese Geschichte ausgerechnet jetzt erzählt? Du bist eigentlich nicht der Typ, der einfach so etwas aus seinem Leben zum Besten gibt.«
»Ich wollte damit sagen, dass ich noch immer sehr oft an ihn denke«, sagte Tamaru. »Was nicht heißt, dass ich ihn wiedersehen möchte. Danach habe ich durchaus kein Bedürfnis. Wir hätten uns bestimmt nichts zu sagen. Aber das Bild, wie er, ohne auch nur einmal aufzuschauen, seine Mäuse aus dem Holz ›herausholte‹, hat sich mir lebhaft eingeprägt. Es bedeutet mir viel, denn es hat mich etwas gelehrt. Oder mich etwas zu lehren versucht. Ein Mensch braucht so etwas, um zu leben. Ein Bild oder eine Szene, deren Bedeutung er nicht in Worte fassen kann. Der Sinn unseres Lebens besteht darin, dieses Etwas zu ergründen. Finde ich.«
»Du meinst, es ist so etwas wie das Fundament unseres Lebens?«
»Vielleicht.«
»Auch ich habe so ein Bild.«
»Dann solltest du sorgsam damit umgehen.«
»Mache ich«, sagte Aomame.
»Und noch eins will ich dir sagen: Ich werde dich beschützen, so gut ich kann. Wenn ich irgendwem eine reinhauen soll, komme ich und mache das, egal, wer es ist. Sieg oder Niederlage spielen keine Rolle, ich lasse dich nicht im Stich.«
»Danke.«
Mehrere Sekunden lang herrschte harmonisches Schweigen.
»Geh für eine Weile nicht aus dem Haus. Und wenn du doch musst, denk dran, dass vor der Tür der Dschungel beginnt, ja?«
»Verstanden«, sagte Aomame.
Damit war das Telefonat beendet. Erst als Aomame aufgelegt hatte, wurde ihr bewusst, wie fest sie den Hörer umklammert hatte.
Tamaru wollte mir vermitteln, dass ich nun ein unersetzliches Mitglied seiner Familie bin, dachte Aomame, und dass dieses Band, wo es nun einmal besteht, nicht durchtrennt werden kann. Wir sind jetzt quasi
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