1Q84: Buch 1&2
auch Sie wohl«, sagte die alte Dame. »Und werden Sie möglichst glücklich.«
»Ich versuche es«, sagte Aomame. Glück gehörte zu den Dingen, die ihr sehr fern waren.
Tamaru kam wieder an den Apparat.
»Du hast das Ding nicht benutzt, nicht wahr?«, fragte er.
»Nein.«
»Das solltest du nach Möglichkeit auch nicht tun.«
»Ich werde mich bemühen, deinen Erwartungen zu entsprechen.«
Es entstand eine kleine Pause.
»Vor kurzem habe ich dir doch erzählt, dass ich in einem Waisenhaus auf Hokkaido aufgewachsen bin«, sagte Tamaru dann.
»Weil du ohne deine Eltern aus Sachalin gekommen warst.«
»In dieser Einrichtung lebte ein Junge, dessen Vater ein in der Gegend von Misawa stationierter schwarzer GI war. Seine Mutter war eine Prostituierte oder ein Barmädchen, aber er kannte sie nicht, denn sie hatte ihn bald nach seiner Geburt im Stich gelassen. Er war zwei Jahre jünger als ich, aber von seiner Statur her größer. Dafür war er ziemlich langsam im Kopf. Natürlich wurde er dauernd von den anderen gehänselt. Schon wegen seiner Hautfarbe, versteht sich.«
»Tja, so ist das.«
»Weil ich auch kein Japaner war, ergab es sich irgendwie, dass ich die Rolle seines Beschützers übernahm. Wir waren ja in einer ganz ähnlichen Lage. Ein Koreaner aus Sachalin und ein Mischling, das Kind von einem Schwarzen und einer Nutte. Niedrigste Kaste. Aber so etwas stählt. Mich zumindest härtete es ab. Aber bei ihm funktionierte das nicht. Ohne mich wäre er wahrscheinlich verloren gewesen. Denn in so einer Umgebung überlebt nur, wer schnell und gerissen ist oder außergewöhnlich harte Fäuste hat. Eins von beidem.«
Aomame hörte schweigend zu.
»Ganz egal, was er machen sollte, er schaffte es nicht. Nichts kriegte er hin. Er konnte nicht mal seine Knöpfe zumachen und sich richtig den Hintern abwischen. Nur im Schnitzen war er unschlagbar. Gab man ihm ein Messer und ein Stück Holz, fertigte er in kürzester Zeit eine wunderbare Schnitzarbeit an. Offenbar entstand in seinem Kopf völlig ohne Vorlage ein Bild, das er exakt in einen dreidimensionalen Gegenstand umwandeln konnte. Ganz fein und ganz realistisch. Er war eine Art Genie. Es war unglaublich.«
»Ein Savant«, sagte Aomame.
»Ja, wahrscheinlich. Ich habe erst viel später von diesem Syndrom und den Inselbegabungen erfahren, die solche Menschen besitzen. Damals hat niemand etwas davon gewusst. Man hielt ihn für geistig zurückgeblieben oder so was. Sein Verstand arbeitete sehr langsam, aber er hatte geschickte Finger. Allerdings konnte er aus irgendeinem Grund nur Mäuse. Die aber ganz ausgezeichnet. Sie wirkten wie lebendig, egal, von welcher Seite man sie anschaute, aber etwas anderes brachte er nie zustande. Ständig versuchten sie, ihn dazu zu bewegen, irgendein anderes Tier zu schnitzen. Ein Pferd oder einen Bären vielleicht. Sie gingen sogar extra in den Zoo mit ihm. Aber er interessierte sich nicht die Bohne für die Tiere. Irgendwann gaben sie es dann auf und ließen ihn machen, was er wollte. Und er schnitzte Mäuse in allen Formen, Größen und Positionen. Das Merkwürdigste daran war, dass es im Waisenhaus gar keine Mäuse gab. Es war zu kalt, und zu knabbern gab es auch nichts. Das Waisenhaus war sogar den Mäusen zu arm. Niemand konnte verstehen, warum er so besessen von Mäusen war … Jedenfalls wurden die Mäuse, die er schnitzte, berühmt, jemand schrieb etwas in einem Lokalblättchen darüber, und auf einmal kamen Leute, die sie kaufen wollten. Daraufhin ließ der Leiter des Waisenhauses – ein katholischer Priester – die geschnitzten Mäuse in einem Laden für Kunsthandwerk ausstellen und an Touristen verkaufen. Es kam wohl sogar etwas Geld zusammen, aber natürlich gelangte kein Yen davon zu ihm. Was daraus wurde, weiß ich nicht, aber wahrscheinlich hat das Waisenhaus es für nötige Anschaffungen verwendet. Von da an gab man dem Jungen Werkzeug und Holz, und er durfte, solange er wollte, in der Werkstatt sitzen und fröhlich Mäuse schnitzen. Was er auch die ganze Zeit machte. Er war nun von der Plackerei auf den Feldern befreit, und eigentlich kann man sagen, dass er Glück hatte.«
»Was ist aus ihm geworden?«
»Weiß ich nicht. Ich bin mit vierzehn aus dem Waisenhaus abgehauen und habe mich von da an allein durchgeschlagen. Ich sprang auf die nächste Fähre und setzte nach Honshu über. Seither habe ich Hokkaido nicht mehr betreten. Als ich ihn das letzte Mal sah, saß er eifrig über seine Werkbank gebeugt und
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