Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
Vom Netzwerk:
von der grellen Morgensonne, rieb sie sich die Nasenwurzel, wo die Brille einen Abdruck hinterlassen hatte. Sie fuhr sich mit der Zungenspitze über die trockenen Lippen. Sie schmeckten leicht nach Lippenstift. Aomame schaute in den klaren Himmel hinauf und dann zur Sicherheit noch einmal nach unten.
    Sie öffnete ihre Umhängetasche und nahm vorsichtig die Heckler & Koch heraus. Um beide Hände frei zu haben, ließ sie die Tasche zu Boden fallen. Sie entsicherte die Pistole mit der linken Hand, zog den Schlitten nach hinten und beförderte eine Patrone in die Kammer. Ihre Bewegungen waren rasch und präzise, und es entstand ein mehrmaliges scharfes Klacken dabei. Sie drehte die Waffe leicht und wog sie in der Hand. Ihr Eigengewicht betrug nur 480 Gramm, dazu kam das Gewicht von sieben Patronen. Alles klar, die Waffe war geladen. Sie spürte den Unterschied am Gewicht.
    Aomames gerader Mund lächelte noch immer. Die Leute beobachteten sie bei ihrem Tun. Niemand schien überrascht, als sie die Pistole aus ihrer Tasche nahm. Zumindest malte sich keinerlei Erstaunen auf die Gesichter der Zuschauer. Vielleicht glaubten sie, die Waffe sei nicht echt. Aber sie ist echt, dachte Aomame.
    Sie richtete den Lauf nach oben und schob sich die Mündung in den Mund, zielte geradewegs auf ihr Gehirn. Auf die graue Masse, die ihr Bewusstsein beherbergte.
    Über ein Gebet musste sie nicht nachdenken, die Worte stellten sich automatisch ein. Den Pistolenlauf im Mund, sagte Aomame sie rasch auf. Niemand hörte, was sie sagte. Aber das war ihr egal. Solange Gott es hören konnte. Die kleine Aomame hatte den Inhalt der Worte, die sie sprach, auch nie richtig verstanden. Aber ihre gesamte Abfolge hatte sie bis in ihr Innerstes durchdrungen. In der Schule hatte sie immer vor dem Essen beten müssen. Allein, aber mit lauter Stimme. Ohne sich um die neugierigen Blicke und den Hohn der anderen zu kümmern. Das Wichtige ist, dass Gott dich sieht. Niemand kann seinen Augen entkommen.
    Der Große Bruder sieht dich.
    Unser Vater im Himmel, dein Name werde geheiligt. Dein Königreich komme. Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir unseren Schuldnern vergeben haben. Sei mit uns durch deinen Segen, sei um uns auf unseren Wegen. Amen .
    Die gutaussehende Dame starrte, die Hände um das Lenkrad ihres nagelneuen Mercedes gelegt, noch immer wie gebannt auf Aomame. Sie schien – wie auch die anderen Leute – die Bedeutung der Waffe in Aomames Hand nicht zu begreifen. Andernfalls würde sie sicher beiseite schauen, dachte Aomame. Wenn sich jemand vor meiner Nase das Hirn wegblasen würde, würde ich wahrscheinlich den ganzen Tag keinen Bissen mehr runterkriegen. Also, nichts für ungut, aber sehen Sie lieber weg, wandte sich Aomame stumm an die Dame. Es ist doch offensichtlich, dass ich mir nicht die Zähne putzen will. Ich stecke mir eine deutsche Automatikpistole, Typ Heckler & Koch, in den Mund und habe gerade mein letztes Gebet gesprochen. Was das bedeutet, können Sie sich ja wohl denken.
    Das ist mein Rat. Es ist ein guter Rat. Schauen Sie weg, sehen Sie nichts, und fahren Sie mit Ihrem nagelneuen Mercedes-Coupé schnurstracks nach Hause, in Ihr hübsches Zuhause, wo Ihr lieber Mann und Ihre lieben Kinderchen warten, und machen Sie weiter mit Ihrem friedlichen Leben. Jemand wie Sie sollte so etwas nicht sehen. Das ist eine echte Pistole. Hässlich und brutal. Geladen mit sieben hässlichen Patronen. Wie Anton Tschechow schon sagte: Wenn in einer Geschichte ein Gewehr vorkommt, muss es auch irgendwann abgefeuert werden. Das ist der Sinn von Geschichten.
    Aber die Dame wollte den Blick partout nicht abwenden. Resigniert schüttelte Aomame ein wenig den Kopf. Tut mir leid, aber länger kann ich nicht warten. Time’s up. Die Vorstellung beginnt.
    Der Tiger im Tank.
    »Hoho«, rief der Zwischenrufer.
    »Hoho«, stimmten die übrigen sechs Little People ein.
    »Tengo«, sagte Aomame. Und spannte ihren Finger am Abzug.

KAPITEL 24
    Tengo
    Solange es die Wärme noch gibt
    Am nächsten Vormittag nahm Tengo vom Bahnhof Tokio den Express nach Tateyama. Von dort fuhr er mit dem Bummelzug nach Chikura. Es war ein sonniger windstiller Morgen. Das Meer bewegte sich kaum. Der Sommer neigte sich bereits dem Ende zu, und mit seiner leichten Baumwolljacke über dem kurzärmligen Hemd war Tengo genau richtig angezogen. Es überraschte ihn, wie ruhig es nun in der kleinen Stadt am Meer war, nachdem die Badegäste verschwunden waren. Man kommt sich ja wirklich fast vor

Weitere Kostenlose Bücher