1Q84: Buch 1&2
wie in der Stadt der Katzen, dachte er.
Er begnügte sich mit einer einfachen Mahlzeit am Bahnhof und nahm dann ein Taxi zum Sanatorium. Es war kurz nach eins, als er dort ankam. Am Empfang begrüßte ihn wieder die gleiche Krankenschwester. Sie war es auch gewesen, die ihn am Abend zuvor angerufen hatte. Schwester Tamura. Sie erinnerte sich an ihn und verhielt sich etwas liebenswürdiger als beim ersten Mal. Sie lächelte sogar ein bisschen. Vielleicht trug auch Tengos verbesserter Aufzug dazu bei.
Zunächst führte sie ihn in die Cafeteria und brachte ihm einen Kaffee. »Bitte warten Sie einen Moment. Der Herr Doktor kommt gleich«, sagte sie. Nach etwa zehn Minuten erschien, sich mit einem Handtuch die Hände abtrocknend, der zuständige Arzt. Er musste um die fünfzig sein, denn sein starkes Haar war bereits von weißen Strähnen durchzogen. Offenbar hatte er etwas Anderweitiges zu erledigen gehabt, denn er trug keinen weißen Kittel. Mit seiner sportlichen Statur, in dem grauen Sweatshirt mit passender Hose und den abgetragenen Joggingschuhen wirkte er nicht so sehr wie ein Arzt an einem Sanatorium, sondern eher wie der Trainer einer Uni-Mannschaft, die es nie aus der zweiten Liga herausschaffte.
Noch einmal erklärte er Tengo in etwa das Gleiche wie am Abend zuvor am Telefon. Leider habe er im Augenblick so gut wie keine medizinische Handhabe mehr. Aus seiner Miene und seiner Wortwahl zu schließen, empfand er aufrichtiges Bedauern.
»Das einzige Mittel, das uns noch bleibt, ist die direkte Ansprache. Durch Sie. Vielleicht können Sie als sein Sohn seinen Lebenswillen noch einmal wecken.«
»Kann mein Vater es hören, wenn ich mit ihm spreche?«, fragte Tengo.
Der Arzt machte ein skeptisches Gesicht und nahm einen Schluck von seinem lauwarmen grünen Tee. »Ehrlich gesagt, ich kann Ihnen das auch nicht sagen. Ihr Herr Vater liegt im Koma. Zumindest reagiert er nicht, wenn man ihn anspricht. Aber es gibt Fälle, in denen auch Patienten, die sich in einem tiefen Koma befinden, Stimmen wahrnehmen. Es soll sogar vorkommen, dass jemand in eingeschränktem Maß den Inhalt des Gesagten versteht.«
»Aber direkt erkennen kann man das nicht, oder?«
»Nein.«
»Ich kann bis gegen halb sieben heute Abend bleiben«, sagte Tengo. »Diese Zeit werde ich bei meinem Vater verbringen und so viel wie möglich mit ihm sprechen.«
»Sollte sich irgendeine Reaktion zeigen, lassen Sie mich bitte sofort rufen«, sagte der Arzt. »Ich bin immer irgendwo in der Nähe.«
Eine junge Schwester – »Adachi« stand auf ihrem Namensschild – brachte Tengo in das Zimmer, in dem sein Vater jetzt lag. Man hatte ihn in ein Einzelzimmer in dem neuen Gebäude verlegt. Dem für die schwerkranken Patienten. Das Zahnrad war weitergerückt. Noch weiter vorrücken konnte es nicht. Das Bett füllte das einfache, längliche, schmale Zimmer fast zur Hälfte aus. Vor dem Fenster lag der kleine, zum Schutz gegen den Wind angepflanzte Kiefernwald. Die dichten Bäume schienen eine langgestreckte Mauer zu bilden, die das Sanatorium von der Wirklichkeit der Lebenden trennte. Die Krankenschwester ging hinaus, und Tengo blieb allein mit seinem Vater, der, das Gesicht zur Decke gewandt, in tiefem Schlaf lag. Er setzte sich auf einen hölzernen Schemel, der neben dem Bett stand, und sah ihn an.
Am Kopfende befand sich ein Infusionsständer. Aus einem Plastikbeutel träufelte durch einen Schlauch Flüssigkeit in eine Vene im Arm seines Vaters. Auch Harn und Exkremente wurden über Schläuche abgeführt. Allerdings war die sichtbare Menge der Ausscheidungen erstaunlich gering. Der Vater wirkte, seit Tengo ihn im letzten Monat gesehen hatte, wie um eine Kleidergröße geschrumpft. Auf seinen hohlen Wangen und dem eingefallenen Kinn sprossen etwa zwei Tage alte weiße Stoppeln. Seine Augen lagen viel tiefer in den Höhlen als zuvor. So viel tiefer, dass Tengo sich fragte, ob man sie nicht mit einem Spezialgerät hervorziehen müsse. Die Augenlider schlossen sich fest über den Höhlen wie heruntergelassene Rollläden. Der Mund war ein wenig geöffnet. Sein Vater atmete nicht hörbar, aber wenn Tengo sein Ohr ganz nahe an ihn heranbrachte, spürte er einen schwachen Luftzug. Seine bis auf ein Minimum herabgesetzten Körperfunktionen erhielten ihn noch gerade so am Leben.
Tengo empfand die Bemerkung, die der Arzt am Telefon gemacht hatte, als schrecklich real: »Wie ein Zug, der seine Geschwindigkeit drosselt, wenn er auf einen Bahnhof zufährt.« Dieser
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