1Q84: Buch 1&2
Zug hier verlor zusehends an Geschwindigkeit, wartete, dass der Triebwagen sich erschöpfte, um ruhig mitten auf freiem Feld stehen bleiben zu können. Das einzig Gute war, dass sich keine Fahrgäste mehr im Zug befanden. So konnte sich auch niemand beschweren, wenn er einfach so anhielt.
Ich muss etwas zu ihm sagen, dachte Tengo. Aber er wusste nicht, was, wie und in welchem Ton. Es fiel ihm einfach nichts ein.
»Vater«, flüsterte er versuchsweise. Mehr brachte er vorläufig nicht heraus.
Er erhob sich von seinem Hocker, trat ans Fenster und schaute auf den gepflegten Rasen und den weiten Himmel über dem Kiefernwäldchen. Auf einem Antennenmast sonnte sich eine Krähe und ließ ihren Blick nachdenklich über die Landschaft schweifen. Am Kopfende des Bettes stand ein Transistorradio mit Wecker, obwohl sein Vater sicher keines von beiden mehr benötigte.
»Ich bin’s. Tengo. Ich bin gerade aus Tokio gekommen. Kannst du mich hören?«, sagte er und sah, am Fenster stehend, zu seinem Vater hinunter. Keine Reaktion. Nachdem seine Stimme die Luft für einen Augenblick in Schwingungen versetzt hatte, wurden seine Worte restlos von der Leere geschluckt, die sich im Zimmer festgesetzt hatte.
Dieser Mann will sterben, dachte Tengo. Man sah es an seinen eingesunkenen Augen. Er hatte beschlossen, sein Leben zu beenden. Hatte die Augen zugemacht und war in tiefen Schlaf gefallen. Alles Gutzureden würde nichts nutzen, es wäre unmöglich, ihn von seinem Entschluss abzubringen. Aus klinischer Sicht war er zwar noch am Leben, aber der Mann selbst hatte willentlich mit allem abgeschlossen. Für ihn gab es keinen Grund mehr, am Leben zu bleiben. Tengo konnte nicht mehr tun, als den Wunsch seines Vaters zu respektieren und ihn in Ruhe sterben zu lassen. Sein Gesicht wirkte sehr friedlich. Zumindest schien er zurzeit keine Schmerzen zu empfinden. Das war das Gute, wie der Arzt am Telefon gesagt hatte.
Dennoch musste Tengo mit seinem Vater reden. Zum einen hatte er es dem Arzt versprochen, der sich besonders fürsorglich um seinen Vater zu kümmern schien. Zum anderen war es auch – ihm fiel kein passenderer Ausdruck ein – eine Frage des Anstands . Tengo hatte schon sehr lange nicht richtig mit seinem Vater gesprochen. Nicht einmal eine alltägliche Unterhaltung hatte zwischen ihnen stattgefunden. Das letzte Mal länger miteinander gesprochen hatten sie wahrscheinlich, als Tengo noch in der Mittelstufe gewesen war. Danach war er kaum noch nach Hause gekommen, und wenn doch, hatte er es nach Möglichkeit vermieden, seinem Vater zu begegnen.
Doch nun lag dieser Mann in einem tiefschlafähnlichen Zustand vor ihm und starb still und leise vor sich hin. Er hatte Tengo offenbart, dass er nicht sein richtiger Vater war, und damit endlich eine Last von sich geworfen. Es schien, als habe ihn dies irgendwie erleichtert. Er hatte sie beide von dieser Last befreit. Im letzten Moment.
Auch wenn sie vielleicht nicht blutsverwandt waren, hatte dieser Mann Tengo als seinen Sohn in sein Familienregister eintragen lassen und sich, bis der Junge für sich selbst sorgen konnte, um ihn gekümmert. Dafür musste er ihm dankbar sein. Eigentlich war er verpflichtet, ihm Bericht darüber zu erstatten, wie er bis jetzt gelebt und empfunden hatte. Fand Tengo. Oder nein, eine Verpflichtung konnte man es nicht nennen. Eigentlich war es eher eine Frage des Anstands . Und hatte nichts damit zu tun, ob das, was er sagte, bei seinem Vater ankam oder ob es etwas nutzte.
Tengo setzte sich wieder auf den Hocker neben das Bett und begann in groben Zügen aus seinem Leben zu erzählen. Er setzte ein, als er in die Oberschule gekommen und in das Wohnheim für Judokas gezogen war. Von da an hatte es so gut wie keine Berührungspunkte mehr zwischen seinem Leben und dem seines Vaters gegeben. Keiner von beiden wusste genau, was der andere tat. Tengo hielt es für das Beste, zunächst diese große Lücke so weit wie möglich zu füllen.
Allerdings gab es über seine Zeit an der Oberschule nichts Besonderes zu erzählen. Es war eine Privatschule in der Präfektur Chiba gewesen, die für ihre starke Judo-Mannschaft bekannt war. Er hätte lieber eine anspruchsvollere Oberschule besucht, aber diese bot ihm die günstigsten Bedingungen. Er war vom Schulgeld befreit, durfte im Wohnheim wohnen und bekam drei Mahlzeiten am Tag. Mittelpunkt von Tengos Leben an dieser Schule war die Judo-Mannschaft. In den Trainingspausen lernte er (obwohl er seine erstklassigen Noten
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