1Q84: Buch 1&2
Allerdings konnte er einen mit seinem langweiligen Gerede schier wahnsinnig machen. Aber darauf stand wohl nicht die Todesstrafe. Wahrscheinlich nicht.
»Darf ich den Fernseher einschalten?«, fragte Aomame.
»Natürlich«, sagte der Mann, der immer noch auf dem Bauch lag.
Nackt auf dem Bett sitzend, sah sie sich die Elf-Uhr-Nachrichten von Anfang bis Ende an. Im Nahen Osten führten Iran und Irak weiter ihren blutigen Krieg. Es war ein aussichtsloser Krieg, und nirgends zeichnete sich auch nur der Beginn einer Lösung ab. Im Irak hängte man junge Deserteure als warnendes Beispiel an Strommasten auf. Die iranische Regierung klagte Saddam Husseins Einsatz von Giftgas und bakteriologischen Waffen an. In Amerika kämpften Walter Mondale und Gary Hart um die Präsidentschaftskandidatur für die Demokraten. Keiner von beiden wirkte besonders intelligent. Vielleicht vermieden kluge Menschen es tunlichst, Präsident zu werden, weil man dann leicht zur Zielscheibe von Attentaten wurde.
Die Errichtung einer permanenten Forschungsstation auf dem Mond machte Fortschritte. Auf diesem Gebiet kooperierten die USA und die Sowjetunion ausnahmsweise miteinander. Wie bei der Erkundung des Südpols. Eine Basis auf dem Mond? Aomame legte verwundert den Kopf schräg. Davon hatte sie noch nie gehört. Wie kam denn das? Sie beschloss jedoch, nicht weiter darüber nachzudenken. Es gab andere, dringlichere Probleme. Ein Brand in einem Kohlebergwerk in Kyushu hatte eine große Zahl von Opfern gefordert, und die Regierung untersuchte die Ursachen. Dass die Menschen in einer Zeit, in der man Mondbasen errichten konnte, weiterhin Kohle aus der Erde buddelten, wollte Aomame nicht in den Kopf. Noch immer forderten die USA von Japan die Öffnung seiner Finanzmärkte. Morgan Stanley und Merrill Lynch setzten auf der Suche nach neuen Geldquellen die Regierung unter Druck. Weiter wurde von einer besonders intelligenten Katze in der Präfektur Shimane berichtet. Das Tier vermochte ein Fenster nicht nur selbstständig zu öffnen, um hinauszugelangen, sondern es auch wieder hinter sich zu schließen. Ihr Besitzer hatte ihr das beigebracht. Beeindruckt sah Aomame zu, wie die schwarze Katze sich geschmeidig umwandte, eine Pfote ausstreckte und mit verständigem Blick sacht ein Fenster zuzog.
Neuigkeiten gab es genug, aber die Entdeckung einer Leiche in einem Hotel in Shibuya wurde nicht erwähnt. Als die Nachrichten zu Ende waren, nahm Aomame die Fernbedienung und schaltete den Apparat aus. Um sie herum herrschte Stille. Nur die gleichmäßigen Atemzüge des schlafenden Mannes neben ihr waren zu hören.
Der andere Mann lag wohl noch in der gleichen Haltung vornüber auf dem Schreibtisch. Sicher sah es aus, als liege er in tiefem Schlaf. Genau wie der Mann neben ihr. Nur dass man seinen Atem nicht hörte. Nicht die geringste Chance, dass diese Ratte noch einmal aufwacht, dachte Aomame. Den Blick zur Decke gerichtet, stellte sie sich die Leiche vor. Sie schüttelte leicht den Kopf und verzog ihr Gesicht. Dann stand sie auf und hob Stück für Stück ihre auf dem Boden verstreuten Kleider auf.
KAPITEL 6
Tengo
Wir haben einen ziemlich weiten Weg vor uns
Am Freitagmorgen gegen fünf rief Komatsu an. Tengo träumte gerade, dass er eine lange Steinbrücke überquerte, um ein wichtiges Papier zu holen, das er am anderen Ufer vergessen hatte. Er war der Einzige, der die Brücke passierte. Sie führte über einen großen, schönen Fluss mit mehreren Sandbänken, auf denen Weiden wuchsen. Im gemächlich dahinströmenden Wasser sah er die eleganten Körper der Lachsforellen. Frische grüne Blätter trieben anmutig auf der Wasseroberfläche. Es war eine Szenerie wie auf einem chinesischen Teller. An dieser Stelle wachte Tengo auf und schaute im Dunkeln auf die Uhr am Kopfende. Ehe er den Hörer abhob, wusste er bereits, wer es war. Nur einer konnte ihn um diese Stunde anrufen.
»Du, Tengo, hast du ein Textverarbeitungsgerät?«, fragte Komatsu. Kein »Guten Morgen«, kein »Warst du schon wach?«. Dass Komatsu selbst um diese Zeit auf war, konnte nur bedeuten, dass er die Nacht durchgemacht hatte. Er war bestimmt nicht aufgestanden, um den Sonnenaufgang zu sehen. Und jetzt, bevor er schlafen ging, war ihm eingefallen, dass er Tengo noch etwas sagen musste.
»Natürlich nicht«, erwiderte Tengo. Es war noch ganz dunkel. Und er stand noch mitten auf der langen Brücke. Es kam selten vor, dass Tengo so plastisch träumte. »Ich bin nicht stolz darauf, aber
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