1Q84: Buch 1&2
allgemeine Abneigung handelte, jemandes Freiheit zu beschneiden, oder um etwas, das sich aus ästhetischen Gesichtspunkten ergab, oder um eine physiologische Aversion ohne besonderen Grund. Allerdings war dies keine Frage, die ihr im Augenblick sonderlich am Herzen lag. Nur etwas, das ihr plötzlich eingefallen war.
Aomame nahm wie die alte Dame ihre Tasse mit dem Kräutertee in die Hand und trank geräuschlos einen Schluck. Eigentlich hatte sie für Kräutertee nicht viel übrig. Sie liebte Kaffee, der heiß und stark war wie ein böser Geist um Mitternacht. Aber ein solcher Kaffee wäre wahrscheinlich kein passendes Getränk für einen frühen Nachmittag im Gewächshaus. So hatte Aomame entschieden, sich immer, wenn sie hier war, den Wünschen der alten Dame anzuschließen. Diese bot ihr nun von den Keksen an, und Aomame aß einen. Es war ein Ingwerkeks. Er war knusprig und hatte die frische Schärfe von Ingwer. Aomame erinnerte sich, dass die alte Dame vor dem Krieg einige Zeit in England verbracht hatte. Auch sie nahm nun einen von den Keksen und knabberte ein wenig daran. Sie verhielt sich sehr ruhig, um den seltenen Schmetterling, der auf ihrer Schulter schlief, nicht zu wecken.
»Wenn Sie gehen, wird Tamaru Ihnen wie üblich einen Schlüssel übergeben«, sagte sie. »Wenn Sie alles erledigt haben, schicken Sie ihn bitte per Post zurück. Wie immer.«
»Jawohl.«
Eine Weile herrschte friedliches Schweigen. In das geschlossene Gewächshaus drang von außen kein Laut. Der Schmetterling schlummerte in aller Ruhe weiter.
»Wir tun nichts Unrechtes«, sagte die alte Dame, indem sie Aomame direkt ins Gesicht sah.
Aomame biss sich leicht auf die Lippen. Dann nickte sie. »Ich weiß.«
»Schauen Sie bitte mal in den Umschlag dort«, forderte die alte Dame sie auf.
Aomame nahm den Umschlag vom Tisch und legte die sieben Polaroid-Fotos, die er enthielt, neben der kostbaren Seladon-Kanne wie Unheil verheißende Tarotkarten aus. Sie zeigten Nahaufnahmen von Körperteilen einer jungen Frau. Rücken, Brüste, Gesäß, Oberschenkel. Sogar die Fußsohlen. Nur ein Foto von ihrem Gesicht gab es nicht. Blutergüsse und Striemen zeugten von Misshandlungen. Anscheinend war irgendein Gürtel benutzt worden. Das Schamhaar war versengt, in diesem Bereich schienen Zigaretten ausgedrückt worden zu sein. Aomame verzog unwillkürlich das Gesicht. Sie hatte schon ähnliche Fotos gesehen, aber noch nie etwas derart Abscheuliches.
»So etwas sehen Sie zum ersten Mal, nicht wahr?«, fragte die alte Dame.
Aomame nickte wortlos. »Ich habe ja schon viel gesehen, aber solche Fotos noch nie.«
»Das hat dieser Mann getan«, sagte die alte Dame. »Sie hat drei Knochenbrüche und ist auf einem Ohr fast taub. Möglicherweise wird sie nie wieder richtig hören.« Die Lautstärke ihrer Stimme veränderte sich nicht, aber sie klang härter und kälter als zuvor. Wie von diesem Wechsel verstört, erwachte der Schmetterling auf ihrer Schulter und flatterte davon.
Die alte Dame fuhr fort. »Einen Menschen, der sich so verhält, darf man nicht gewähren lassen. Unter keinen Umständen.«
Aomame sammelte die Fotos ein und steckte sie wieder in den Umschlag.
»Finden Sie nicht?«
»Doch, das finde ich auch«, pflichtete Aomame ihr bei.
»Wir tun das Richtige«, sagte die Chefin.
Sie erhob sich von ihrem Stuhl und nahm – vielleicht um sich zu beruhigen – die Gießkanne, die neben ihr stand. Aber sie griff danach wie nach einer raffinierten Waffe. Sie war blass geworden. Ihre Augen waren starr und scharf auf einen Winkel im Gewächshaus gerichtet. Aomame folgte ihrem Blick, konnte aber nichts Ungewöhnliches entdecken. Nur einen Topf mit einer japanischen Distel.
»Vielen Dank, dass Sie sich herbemüht haben und natürlich für die gute Arbeit«, sagte sie, die leere Gießkanne in der Hand. Damit schien das Gespräch beendet.
Aomame stand auf und nahm ihre Tasche. »Vielen Dank für den Tee.«
»Ich habe zu danken«, sagte die alte Dame.
Aomame lächelte schwach.
»Es gibt nichts, worüber Sie sich Sorgen machen müssten.« Der Tonfall der alten Dame hatte seine übliche Heiterkeit zurückgewonnen. In ihren Augen leuchtete ein warmes Licht. Sie berührte Aomames Arm. »Denn wir tun das Richtige.«
Aomame nickte. Ihre Gespräche endeten stets mit der gleichen Sentenz. Vielleicht muss sie sich das ständig selbst vorsagen, dachte Aomame. Wie ein Mantra oder ein Gebet. »Du musst dir keine Sorgen machen. Wir tun das
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