1Q84: Buch 1&2
daran, dass der von seinen Hinterbliebenen so geliebte, friedlich Verstorbene sinnlos aufgeschnitten wird.«
»Vor allem, wenn man an die Witwe denkt.«
Tamaru schwieg eine Weile. Dann streckte er ihr seine mächtige Rechte entgegen, die in etwa die Größe eines Baseballhandschuhs hatte. Aomame ergriff sie. Sie schüttelten sich fest die Hände.
»Du siehst müde aus. Du solltest dich ein bisschen ausruhen.«
Aomame zog die Mundwinkel leicht auseinander, wie normale Menschen es tun, wenn sie lächeln, doch in Wirklichkeit lächelte sie nicht. Es sollte nur heißen, dass sie lächelte.
»Wie geht’s Bun?«, fragte Aomame.
»Prima«, erwiderte Tamaru. Bun war die Schäferhündin, die in der Villa gehalten wurde. Sie war ein kluges Tier mit einem guten Charakter. Eine etwas seltsame Angewohnheit hatte sie allerdings.
»Isst sie immer noch Spinat?«, fragte Aomame.
»Jede Menge. Wenn die Spinatpreise weiter steigen, werden wir arm. Bei den Mengen, die sie vertilgt.«
»Ich habe noch nie einen Schäferhund gesehen, der Spinat mag.«
»Wahrscheinlich hält sie sich nicht für einen Hund.«
»Für was denn sonst?«
»Vielleicht für ein besonderes Wesen, das nicht in solche Schubladen passt?«
»Einen Überhund?«
»Kann sein.«
»Und deshalb bevorzugt sie Spinat?«
»Das hat damit nichts zu tun, sie mag ihn einfach. Soll sie schon als Welpe getan haben.«
»Aber vielleicht brütet sie deshalb gefährliche Gedanken aus.«
»Könnte sein«, sagte Tamaru. Dann schaute er auf die Uhr. »Übrigens, dein Termin heute ist doch um halb eins, oder?«
Aomame nickte. »Ja, ich habe noch ein bisschen Zeit.«
Tamaru erhob sich langsam. »Warte einen Moment hier, bitte. Vielleicht kannst du schon früher zu ihr.« Er verschwand im Flur.
Während sie wartete, betrachtete Aomame die prächtigen Weiden. Es war windstill, und ihre Zweige hingen ruhig auf den Boden herab. Sie wirkten wie unaufhörlich in Gedanken versunkene Menschen.
Kurz darauf kam Tamaru zurück. »Du kannst reingehen. Sie möchte, dass du heute ins Gewächshaus kommst.«
Die beiden gingen durch den Garten, an den Weiden vorbei, zum Gewächshaus, das sich auf der Rückseite der Villa befand. In seiner Umgebung hatte man auf Bäume verzichtet, um dem Sonnenlicht ungehinderten Zugang zu gewähren. Behutsam öffnete Tamaru die Glastür einen Spalt, damit die Schmetterlinge darin nicht hinausflogen, und schob Aomame hinein. Dann schlüpfte er ebenfalls rasch durch die Tür und zog sie unverzüglich hinter sich zu. Beweglichkeit ist nicht die Stärke kräftiger Menschen. Immerhin bewegte Tamaru sich genau bemessen und präzise. Nur dass es seine Stärke war, konnte man nicht behaupten.
In dem großen gläsernen Gewächshaus herrschte ein ewiger und vollkommener Frühling. Alle möglichen Arten von Blumen blühten wunderhübsch durcheinander. Die meisten waren nicht ungewöhnlich, auch wenn es aus Aomames Sicht nur ein unglaubliches Durcheinander verschiedener Pflanzen war. Gladiolen, Anemonen, Margeriten, Topfpflanzen, wie man sie überall sieht, reihten sich auf den Regalen. Kostbare Orchideen, seltene Rosenarten, polynesische Blumen in leuchtenden Farben oder Ähnliches gab es tatsächlich nicht zu entdecken. Aomame hatte kein besonderes Interesse an Pflanzen, dennoch gefiel ihr dieses unprätentiöse Gewächshaus sehr gut.
Dafür lebte dort eine Vielzahl von Schmetterlingen. Es schien der Besitzerin ein besonderes Anliegen zu sein, in ihrem großen Glashaus statt seltener Pflanzen seltene Schmetterlinge zu züchten. Die Blumen waren danach ausgewählt, dass sie möglichst viel lockenden Nektar für die Schmetterlinge produzierten. Für die Aufzucht von Schmetterlingen in einem Glashaus war ein ungewöhnliches Ausmaß von Sorgfalt, Kenntnis und Mühe erforderlich, aber Aomame hatte keine Ahnung, wie weit diese Sorgfalt wirklich reichte. Im Hochsommer empfing die Besitzerin Aomame mitunter im Gewächshaus, um sich dort unter vier Augen mit ihr zu unterhalten. In einem gläsernen Haus musste man nicht fürchten, heimlich belauscht zu werden. Die Gespräche, die dort zwischen den beiden Frauen stattfanden, waren nicht von der Art, dass man sie überall hätte laut führen können. Außerdem beruhigte es die Nerven, von Blumen und Schmetterlingen umgeben zu sein. Das war Aomame anzusehen. Sie fand es immer etwas zu warm in dem Gewächshaus, aber nicht so, dass es nicht auszuhalten war.
Die Besitzerin der Weidenvilla war eine zierliche ältere Dame von
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