1Q84: Buch 1&2
auf und reichte mir eine Beretta 92. Sie sagte, ich solle doch mal auf einen weißen Hasen schießen, der dort hoppelte.«
»Eine wahre Geschichte.«
Die Falten um Tamarus Mundwinkel vertieften sich ein wenig. »Ich erzähle nur wahre Geschichten«, sagte er. »Auf alle Fälle wurden die Dienstwaffen und die Uniformen im Frühjahr vor zwei Jahren erneuert. Ziemlich genau um diese Zeit. Ist deine Frage damit beantwortet?«
»Vor zwei Jahren«, wiederholte Aomame.
Tamaru musterte Aomame wieder mit einem scharfen Blick. »Wenn du etwas auf dem Herzen hast, solltest du es mir lieber sagen.«
»Nein, nein, es ist nichts«, sagte Aomame und wedelte ein bisschen mit den Fingern beider Hände in der Luft herum. »Ich war nur unsicher wegen der Uniformen und habe mich gefragt, wann sie geändert wurden.«
Eine Weile herrschte Schweigen, und das Gespräch kam damit zu einem natürlichen Ende. Tamaru streckte ihr noch einmal die rechte Hand entgegen. »Ich bin froh, dass alles problemlos gelaufen ist«, sagte er. Aomame ergriff seine Hand. Dieser Mann wusste Bescheid. Wusste, dass man nach einer schweren Aufgabe, bei der es um ein Menschenleben gegangen war, eine ruhige, warme Ermutigung brauchte, die eine körperliche Berührung einschloss.
»Gönn dir mal eine Pause«, sagte Tamaru. »Ab und zu muss man innehalten und tief durchatmen, um den Kopf freizubekommen. Flieg mit deinem Freund nach Guam oder so.«
Aomame stand auf, hängte sich ihre Tasche um und zog die Kapuze ihrer Segeljacke zurecht.
Auch Tamaru erhob sich. Er war gar nicht groß, aber wenn er sich aufrichtete, wirkte er wie eine Mauer. Aomame war immer wieder von der kompakten Massigkeit seines Körpers überrascht.
Als sie davonging, sah Tamaru ihr lange und aufmerksam nach. Aomame spürte seinen Blick in ihrem Rücken. Deshalb schritt sie aufrecht, fest und mit eingezogenem Kinn schnurgerade voran. Aber sie war so verwirrt, dass sie ihre Umgebung nicht wahrnahm. Immer mehr Dinge kamen ans Licht, von denen sie nichts gewusst hatte. Bis vor kurzem hatte sie alles in der Hand gehabt. Ohne diese Brüche und Widersprüche. Doch nun war ihre Welt in tausend Stücke zersprungen.
Feuergefecht am Motosu-See? Beretta 92?
Was war geschehen? Derart wichtige Nachrichten wären Aomame nie entgangen. Irgendwo hatte das System dieser Welt begonnen, verrücktzuspielen. Ihr Verstand raste im Kreis. Was auch immer passiert war, sie musste ihre Welt wieder zu einem Stück zusammenfügen. Sie musste Vernunft hineinbringen. Und zwar schnell. Wer weiß, was sonst noch für ein Unsinn herauskommen würde.
Vielleicht hatte Tamaru durchschaut, wie verwirrt Aomame innerlich war. Er war ein aufmerksamer Mann mit großer Intuition. Und ein gefährlicher Mann. Tamaru empfand tiefe Hochachtung vor seiner Herrin, der alten Dame, und war ihr völlig ergeben. Ihre Sicherheit zu gewährleisten war sein oberstes Gebot. Aomame und Tamaru akzeptierten einander und waren sich sympathisch. Zumindest hegten sie so etwas Ähnliches wie Sympathie füreinander. Aber wenn beschlossen würde, dass Aomame aus irgendeinem Grund keinen Nutzen mehr für seine Herrin hätte, würde er sie ohne zu zögern fallenlassen und beseitigen. Ganz pragmatisch. Doch das konnte man Tamaru nicht vorwerfen. Immerhin war das sein Beruf.
Als Aomame den Garten durchquert hatte, öffnete sich das Tor. Sie lächelte so liebenswürdig wie möglich in die Überwachungskamera und winkte lässig. Als sei nichts geschehen. Langsam schloss sich das Tor hinter ihr. Während Aomame den steilen Hang in Azabu hinunterging, ordnete sie ihre Gedanken und stellte im Geiste eine Liste der Dinge auf, die sie jetzt tun musste.
KAPITEL 8
Tengo
Begegnung mit einem Unbekannten
an einem unbekannten Ort
Für die meisten Menschen ist der Sonntagmorgen der Inbegriff von Freizeit. Doch Tengo hatte sich während seiner gesamten Kindheit nicht ein einziges Mal auf den Sonntagmorgen gefreut. Der Gedanke an den Sonntag ließ seine Laune stets sinken. Angesichts des nahenden Wochenendes überkam ihn bleierne Schwere, er verlor den Appetit, und alles tat ihm weh. Der Sonntag zeigte Tengo nur seine abgewandte dunkle Seite, wie ein verkehrter Mond. Wie schön wäre es, wenn es keine Sonntage gäbe, hatte er als Junge oft gedacht. Wie wunderbar, wenn jeden Tag Schule wäre und nie Feiertag. Er betete sogar darum, dass der Sonntag ausfallen möge – ein Gebet, das natürlich nie erhört wurde. Als Erwachsenen stellten die Sonntage für ihn
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