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1Q84: Buch 1&2

Titel: 1Q84: Buch 1&2 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Haruki Murakami
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Mitte siebzig. Ihr schönes weißes Haar war kurz geschnitten. Sie trug ein langärmliges Arbeitshemd aus Kattun, eine cremefarbene Baumwollhose, schmutzige Turnschuhe und weiße Arbeitshandschuhe. Sie war gerade dabei, mit einer großen Metallgießkanne die Topfpflanzen zu bewässern. Ihre Kleidung schien eine Nummer zu groß, wirkte aber dennoch bequem und passend. Immer wenn Aomame sie sah, konnte sie nicht umhin, die ungezwungene natürliche Eleganz der alten Dame zu bewundern.
    Sie stammte aus einer berühmten Familie von Industriellen und hatte vor dem Krieg einen Adligen geheiratet; dennoch erschien sie nicht im Geringsten verwöhnt oder verweichlicht. Nachdem ihr Mann kurz nach dem Krieg verstorben war, hatte sie die Leitung einer kleinen Investmentfirma übernommen, die Verwandten von ihr gehörte, und sich als sehr begabte Börsenmaklerin erwiesen. Jedermann gab zu, dass sie ein Naturtalent war. Unter ihrer Leitung gelangte die Firma rasch zum Erfolg, und ihr persönliches Vermögen wuchs. Mit diesem Kapital erwarb sie mehrere erstklassige Grundstücke in der Innenstadt, die der kaiserlichen Familie und dem Adel gehörten. Vor etwa zehn Jahren hatte sie sich zur Ruhe gesetzt, ihre Anteile zu einem günstigen Zeitpunkt teuer verkauft und so ihr Vermögen weiter vermehrt. Da sie es nach Möglichkeit vermieden hatte, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, war ihr Name allgemein kaum bekannt, aber in der Wirtschaftswelt gab es niemanden, der ihn nicht kannte. Auch zu politischen Kreisen pflegte sie enge Beziehungen, hieß es. Im persönlichen Umgang war sie eine aufgeschlossene, sehr kluge Frau, die keine Furcht kannte. Sie vertraute fest auf ihre eigenen Instinkte, und wenn sie einmal einen Plan gefasst hatte, führte sie ihn auch durch.
    Als sie Aomame sah, stellte sie die Gießkanne ab, wies auf einen kleinen Gartenstuhl aus Metall, der in der Nähe des Eingangs stand, und bedeutete ihr, dort Platz zu nehmen. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl ihr gegenüber. Bei kaum einer ihrer Bewegungen verursachte sie ein Geräusch. Sie war wie eine scheue Füchsin, die lautlos einen Wald durchstreift.
    »Möchten Sie etwas zu trinken?«, erkundigte sich Tamaru.
    »Einen warmen Kräutertee«, sagte sie und sah Aomame an. »Und Sie?«
    »Das Gleiche«, sagte Aomame.
    Tamaru nickte kurz und schickte sich an, das Gewächshaus zu verlassen. Nachdem er sich umgeschaut und vergewissert hatte, dass keiner der Schmetterlinge in der Nähe war, öffnete er die Tür einen Spalt, huschte hastig nach draußen und schloss die Tür wieder. Es sah aus, als vollführe er einen Gesellschaftstanz.
    Die alte Dame streifte die Baumwollhandschuhe ab, als handle es sich um seidene Abendhandschuhe, und legte sie säuberlich übereinander auf den Tisch. Mit ihren strahlenden schwarzen Augen blickte sie Aomame direkt an. Es waren Augen, die schon vieles gesehen hatten. Aomame erwiderte den Blick so weit, dass es nicht respektlos war.
    »Leider ist ein Mensch gestorben. Offenbar jemand, dessen Name im Ölgeschäft ziemlich bekannt war. Er war noch jung, aber ein einflussreicher Mann.«
    Die alte Dame sprach immer sehr leise. In einer Lautstärke, die unterging, wenn der Wind ein bisschen stärker blies. So mussten ihre Gesprächspartner stets die Ohren spitzen. Aomame hatte manchmal das Bedürfnis, die Hand auszustrecken und den Lautstärkeregler nach rechts zu drehen. Doch selbstverständlich gab es keinen Lautstärkeregler, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als angestrengt zu lauschen.
    »Auch wenn ihn sein Tod recht plötzlich ereilte«, sagte Aomame, »kommt er dem Anschein nach nicht völlig ungelegen. Die Erde dreht sich weiter.«
    Die Chefin lächelte. »Kein Mensch auf dieser Welt ist unersetzlich. Ganz gleich, wie viel Wissen und Macht er besitzt, irgendwo gibt es immer einen Nachfolger. Wäre die Welt voller unersetzlicher Menschen, wären wir in großen Schwierigkeiten. Natürlich …«, fügte sie hinzu und reckte ihren rechten Zeigefinger in die Luft, wie um ihre Aussage zu unterstreichen. »… könnte ich für Sie nicht so leicht einen Ersatz finden.«
    »Aber es dürfte nicht allzu schwierig sein, eine alternative Methode zu entdecken«, bemerkte Aomame.
    Die alte Dame musterte sie ruhig. Auf ihren Lippen lag ein zufriedenes Lächeln. »Mag sein«, sagte sie. »Aber selbst wenn, so etwas wie unsere Zusammenarbeit ließe sich nie wieder finden. Sie sind einmalig. Ich bin Ihnen sehr dankbar. Mehr, als ich mit Worten

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