1Q84: Buch 1&2
Weise das Gefühl hatte, ihr Bewusstsein weise Lücken oder Verzerrungen auf.
Sie führte ihre Hypothese weiter.
Nicht ich bin verrückt, die Welt ist es.
Ja, so kommt es hin, dachte sie.
Zu einem gewissen Zeitpunkt ist die Welt, wie ich sie kannte, verschwunden oder hat sich zurückgezogen, und eine andere ist an ihre Stelle getreten. Als sei eine Weiche umgestellt worden. Das hieße, mein gegenwärtiges Bewusstsein wäre noch der ursprünglichen Welt verhaftet, die jedoch bereits einer anderen gewichen ist. Die Veränderungen, die stattgefunden haben, sind im Augenblick noch begrenzt. Der größte Teil der neuen Welt wurde aus der ursprünglichen mir bekannten Welt übernommen. Daher verspüre ich in meinem Alltag (momentan noch) keine oder fast keine echte Beeinträchtigung. Aber als Folge der »geänderten Teile« werden vielleicht noch mehr Unterschiede in meiner Umgebung entstehen. Die Unterschiede werden sich nach und nach vermehren, und von Fall zu Fall wird die Logik meiner Handlungen leiden, und ich werde fatale Fehler begehen. Es wäre buchstäblich tödlich, wenn es so käme.
Eine Parallelwelt.
Aomame verzog ihr Gesicht, wenn auch nicht so heftig wie zuvor, eher so, als habe sie etwas sehr Bitteres im Mund. Wieder hämmerte sie mit dem Kugelschreiber gegen ihre Vorderzähne, und ein tiefes Knurren entrang sich ihrer Kehle. Die Schülerin, die mit dem Rücken zu ihr saß, hörte es, tat inzwischen aber so, als würde sie nichts bemerken.
Das ist ja richtige Science-Fiction, dachte Aomame.
Aber womöglich stellte sie diese egozentrischen Vermutungen ja aus reinem Selbstschutz an? Vielleicht wurde sie in Wirklichkeit einfach nur verrückt. Sie betrachtete sich als geistig völlig normal. Hielt ihr Bewusstsein für unbeeinträchtigt. Aber behaupteten nicht die meisten Geisteskranken, alle anderen seien verrückt, sie selbst hingegen völlig normal? War die wahnwitzige These von der Parallelwelt nur der gewaltsame Versuch, ihren eigenen Wahnsinn zu rechtfertigen?
Sie brauchte die Meinung eines unbeteiligten Dritten.
Zu einem Psychiater zu gehen und sich untersuchen zu lassen kam nicht in Frage. Die Umstände waren zu kompliziert, und es gab zu vieles, was sie nicht preisgeben konnte. Zum Beispiel, dass ihr »Beruf« mit dem Gesetz unvereinbar war. Und vor allem, dass sie Männern einen selbst geschliffenen Eispick in den Nacken stieß, um sie zu töten. Das konnte sie doch keinem Arzt erzählen. Ob die Ermordeten nun feige, perverse Typen gewesen waren, die es verdient hatten zu sterben, oder nicht. Und selbst wenn sie diese illegale Seite ihres Lebens vorläufig hätte verbergen können, so wäre auch mit den legalen Teilen kein Staat zu machen gewesen. Ihr Leben war wie ein mit schmutziger Wäsche vollgestopfter Koffer, und sein Inhalt reichte aus, um einen Menschen in den Wahnsinn zu treiben. Wahrscheinlich reichte es sogar für zwei oder drei. Ihr Sexualleben war eines der Dinge, die hervorgezerrt würden. Und das war weiß Gott nichts, das sie vor anderen auspacken wollte. Nein, zum Arzt konnte sie nicht gehen. Sie konnte das Problem nur selbst lösen.
Sie würde ihre These noch ein wenig weiterführen.
Falls es sich wirklich so zugetragen hatte, falls ihre Welt wirklich vertauscht worden war – wann, wo und wie hatte sich das konkret abgespielt? Wo war die Schnittstelle?
Noch einmal folgte Aomame konzentriert dem Faden ihrer Erinnerung.
Dass Teile ihrer Welt sich verändert hatten, war ihr zum ersten Mal vor ein paar Tagen aufgefallen, als sie den Ölexperten in dem Hotelzimmer in Shibuya beseitigt hatte. Sie war auf der Stadtautobahn Nr. 3 aus dem Taxi gestiegen, war über die Notfalltreppe auf die Nationalstraße 246 hinuntergeklettert, hatte ihre Strümpfe gewechselt und sich zur Tokyu-Linie am Bahnhof Sangenjaya begeben. Unterwegs war sie an einem jungen Polizisten vorbeigegangen und hatte bemerkt, dass seine Aufmachung sich von der, die sie kannte, unterschied. So hatte alles angefangen. Also hatte der Austausch der Welten wahrscheinlich kurz vorher stattgefunden. Denn der Polizeibeamte, den sie am Morgen in der Nähe ihrer Wohnung gesehen hatte, hatte noch die gewohnte Uniform und den altmodischen Revolver getragen.
Aomame erinnerte sich an das sonderbare Gefühl, das sie im Taxi verspürt hatte, als Janáčeks Sinfonietta ertönte. Als würde ihr Körper verdreht . Es hatte sich angefühlt, als werde er ausgewrungen wie ein Putzlappen. Der Taxifahrer hatte sie auf die Treppe
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